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Gezielte Zersetzung

Die von den Eliten organisierten gesellschaftlichen Spaltungen dienen der Herrschaftssicherung.

Nun kann es Situationen geben, in denen Meinungsmanagement allein nicht mehr ausreicht, Demokratie für die wirklichen Zentren der Macht risikofrei zu gestalten. Daher wurde seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts mit großem Aufwand und unter wesentlicher Beteiligung von Psychologie und Sozialwissenschaften versucht, Techniken zu entwickeln, durch die sich auch andere psychische Bereiche beeinflussen und kontrollieren lassen.

Schon früh erkannte man, dass sich in der Bevölkerung trotz systematischer Manipulation von Meinungen ein politisches Veränderungsbedürfnis aufstauen kann, das sich gegen die Zentren der Macht zu entladen droht. Daher mussten Techniken entwickelt werden, durch die sich eine solche Veränderungsenergie neutralisieren, noch besser: spalten und zersetzen lässt.

Derartige Techniken wurden bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr erfolgreich eingesetzt, um die Arbeiterklasse sozial zu spalten und Gewerkschaften zu zersetzen. Über eine systematische Erzeugung von Falschidentitäten lassen sich soziale Spaltungen besonders wirksam bewerkstelligen. Beispielsweise wurden damals raffinierte Methoden entwickelt, die dem Ziel dienten, dass Arbeiter sich nicht mehr mit ihrer sozialen Klasse identifizieren, sondern mit ihrem Arbeitgeber. Seitdem wurden diese psychologischen Techniken beständig erweitert und verfeinert — eine Entwicklung, die im Neoliberalismus einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Eine ausgesprochen wirksame Methode, emanzipatorisches Veränderungspotential durch Spaltung zu neutralisieren, beruht auf einer recht einfachen Methode der Verklammerung. Wenn man nämlich Maßnahmen und Ziele, die mit moralischen und humanitären Werten verbunden sind, in geeigneter Weise mit Maßnahmen verklammert, die im Dienste imperialer oder ökonomischer Interessen stehen, so lassen sich humanitäre Maßnahmen gleichsam als Trojanische Pferde nutzen, um in nahezu unsichtbarer Weise Maßnahmen durchzusetzen, die ansonsten keine öffentliche Zustimmung finden würden. Beispiele einer solchen Verklammerungsmethode sind der „Kampf für Demokratie und Menschenrechte“, der „Kampf gegen den Terror“ oder das „Recht humanitärer Interventionen“.

Das Gemeinsame an diesen Beispielen ist, dass sie gleichsam humanitäre Mogelpackungen sind. Sie verklammern nämlich aktuelle ernsthafte humanitäre Anliegen mit längerfristigen imperialen oder ökonomischen Interessen zu einem kaum mehr aufzuschlüsselnden Maßnahmenpaket. Der Öffentlichkeit wird dann vorgegaukelt, dass beide Aspekte unauflöslich verknüpft seien und die humanitären Ziele nur zu dem Preis zu verwirklichen seien, dass sie das Gesamtpaket akzeptiert.

Da humanitäre Anliegen in der Öffentlich eine beträchtliche Attraktivität entfalten können, lassen sich auf diese Weise berechtigte humanitäre Anliegen missbrauchen, um mit ihrer Hilfe ökonomische oder auch imperiale Interessen durchzusetzen.

Auch die neoliberale Konzeption von Globalisierung ist ein derartiges Verklammerungspaket, mit dem sich humanitäre Aspekte und Menschenrechte als Ermächtigungsnormen zur Durchsetzung einer Politik missbrauchen lassen, die ökonomischen oder imperialen Interessen dient. Eine Verklammerung drängender humanitärer Anliegen mit Interessen mächtiger ökonomischer und politischer Akteure — etwa das Interesse global operierender Großkonzerne nach „flexiblem“ und kostengünstigem „Humankapital“ — führt nun gerade in emanzipatorischen Bewegungen oft zu inneren Spannungen und Konflikten, die sich sehr erfolgreich für Spaltungen nutzen lassen.

Zudem lässt sich der jahrhundertealte Kampf gegen die Demokratie durch eine Verklammerung humanitärer Anliegen mit Interessen einer neoliberalen Globalisierung besonders wirksam führen. Da der Neoliberalismus Demokratie als eine Art Marktstörung auffasst, ist er weltweit der vehementeste Gegner demokratischer Organisationsformen. Für den neoliberalen Kampf gegen die Demokratie erweisen sich Themen, die mit vorgeblichen Sachzwängen der sogenannten Globalisierung zusammenhängen, als besonders geeignet, weil es aus grundsätzlichen Gründen keine globalisierten Formen von Demokratie geben kann.

Es ist nämlich, wie insbesondere Ingeborg Maus sorgfältig aufgezeigt hat, nicht möglich, den modernen Verfassungsbegriff auf eine Weltgesellschaft anzuwenden, da es keinen globalen „demos“ und somit keinen globalen Träger einer demokratischen gesetzgeberischen Souveränität gibt.

Es kann auf der Ebene der Weltgemeinschaft keinen öffentlichen Debattenraum geben, in dem unterschiedliche Partikularinteressen für ein politisches Handeln miteinander in Einklang gebracht werden könnten. Folglich kann es auf globaler Ebene auch keine Prozeduren einer demokratischen Konsensfindung und Friedenssicherung geben.

Die Idee einer demokratischen Gestaltung eines politischen Gemeinwesens wird auf globaler Ebene zwangsläufig völlig inhaltsleer. Dies gilt umso mehr, als die Zentren international operierender wirtschaftlicher Macht heute so organisiert sind, dass sie sich Gesetze, denen sie unterliegen, faktisch selber schreiben und keiner Form demokratischer Kontrolle und Rechenschaftspflicht unterliegen.

Demokratie und mit ihr mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften — wie der Sozialstaat und die mit ihm verbundenen Mechanismen einer Begrenzung von Exzessen kapitalistischer Akkumulation — sind auf die Ebene einzelstaatlicher Organisationsformen angewiesen. Auf globaler Ebene sind demokratische Legitimationsformen unmöglich.

Genau dies ist natürlich den mächtigen ökonomischen Akteuren sehr bewusst. Wenn diese also — wie im UN-Migrationspakt, der auf ein Migrationsmanagement zielt und nicht auf wirkliche Bekämpfung von Migrationsursachen — globale neoliberale Interessen mit berechtigten humanitären Anliegen verklammern, so können sie mit solchen humanitären Mogelpackungen zwei lästige Fliegen mit einer Klappe (er)schlagen.

Zum einen lässt sich so demokratischen Organisationsformen längerfristig ihre Grundlage entziehen. Zum anderen eignen sich diese Verklammerungen durch die Spannungen, die sie in emanzipatorischen Bewegungen erzeugen, besonders gut, Dissens durch Spaltung einzudämmen und Veränderungsenergien, die sich gegen die Zentren der Macht richten, auf andere Ziele umzulenken und somit politisch unwirksam zu machen.

Wie lassen sich geeignete Gegenstrategien gegen Herrschaftstechniken einer Zersetzung und Spaltung von Dissens entwickeln? Dazu müssen Funktions- und Wirkmechanismen dieser Techniken sorgfältig analysiert und öffentlich behandelt werden. Gegenwärtig spricht viel dafür, dass diese emanzipatorische Aufgabe nur auf außerparlamentarischen Wegen geleistet werden kann.


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Dieser Artikel erschien zuerst im Rubikon-Magazin.
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