Solidaritätserklärung mit Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız
Anwält:innen-Organisationen fordern effektive Ermittlungen im Komplex ›NSU 2.0‹
Die Presseerklärung gibt’s hier.
Hanau ist nur ein Beispiel für rechtsextreme Morde im Bundesland Hessen. Besonders brisant sind die Morde an Halit Yozgat 2006 und an Walter Lübke 2019. Als Verbindung zwischen den Fällen sieht der Rechtsextremismusexperte Wolf Wetzel den Verfassungsschutz.
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In Junge Welt spricht der Politikwissenschaftler Hajo Funke von einer Behinderung der Aufklärung des Mordfalls Lübcke durch die hessische Landesregierung – CDU und Grüne – und insbesondere Volker Bouffier, wie es sie auch in Falle der Ermordung des Kasseler Internetcafébesitzers Halit Yozgat gab:
„Junge Welt: Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier hat letzte Woche »rückhaltlose Aufklärung« versprochen, nachdem der Neonazi Stephan Ernst als Hauptverdächtiger im Fall des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke festgenommen worden war. Wirkt diese Aussage von Bouffier aus Ihrer Sicht glaubwürdig?
Funke: Rückhaltlose Aufklärung würde bedeuten, dem Generalbundesanwalt alle nötigen Akten aus Hessen zur Verfügung zu stellen. Wir erleben aber seit Tagen, dass dies nicht geschieht. Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz hat sich nur bereit erklärt, die Akte von Stephan Ernst selbst zu übermitteln. Aber die Akten der Nachuntersuchung des Landesamts für Verfassungsschutz zum NSU sollen nach wie vor für 120 Jahre unter Verschluss gehalten werden. Auch die Bundesanwaltschaft hat sie bisher nicht. Bouffier müsste zurücktreten, wenn er weiterhin die Aufklärung behindert, wie schon im Fall des NSU-Mordes an Halit Yozgat 2006.“
Walter Lübcke (CDU) war Abgeordneter des hessischen Landtages und Präsident des Kasseler Regierungspräsidiums. Er wurde am 2. Juni 2019 in seinem Haus getötet. Aufnahmen von Überwachungskameras gibt es offenbar nicht. In den Medien finden sich keine entsprechenden Angaben. Erstaunlicherweise war der zunächst als Einzeltäter präsentierte Stephan Ernst dann doch in der Mordnacht mit zwei Autos unterwegs…
Lübcke hatte bereits im März die Altersgrenze für seine Pensionierung erreicht, aber noch eine Verlängerung seiner Amtszeit als Regierungspräsident bis September beantragt.
Der Lübcke-Mord hat eine Verbindung zu der NSU-Mordserie, wie die hessische Landtagsabgeordnete Janine Wissler von Die Linke in einem Interview im ZDF erläuterte:
„Ich finde man muss insbesondere die Frage stellen: Ist das wirklich ein Einzeltäter, weil wir ja schon wissen, dass wir sehr vernetzte Neonazi-Strukturen auch haben. Gerade in Nordhessen, das war ein wichtiges Thema in diesem Untersuchungsausschuss. Na ja, und uns war eben besagter Stephan E. aufgefallen. Wir hatten 2015 explizit nach ihm gefragt. Wir haben das Landesamt für Verfassungsschutz nach ihm gefragt. Und die Behörden gefragt, was sie über diesen Mann wissen. Und da haben wir leider keine Antwort bekommen.“
Auf der Website der Tagesschau findet sich in dem Artikel „Razzia nach Lübcke-Mord. Mutmaßlicher Helfer als Neonazi bekannt“ ebenfalls ein Hinweis auf eine Verbindung zwischen dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan Ernst und der NSU-Mordserie:
„Markus H., der Stephan E. Waffen vermittelt haben soll, war bereits 2006 im Zusammenhang mit dem Mord an Halit Yozgat in Kassel vernommen worden. Wie sich später herausstellte, war Yozgat vom NSU ermordet worden.“
Die Umstände der Ermordung des Kasseler Internetcafébesitzers Halit Yozgat zeigen deutlich ein Verstrickung staatlicher Stellen in den Mordfall: Der zum Tatzeitpunkt – nach eigener Aussage vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen – anwesende hessische Geheimdienstler und Nazi-Verbindungsmann Andreas Temme – Spitzname „Klein Adolf“ – will nach eigener Aussage nichts von dem Mord mitbekommen haben, der bei den beteiligten Behördenkreisen auch „die Kasseler Problematik“ genannt wird. Die schwarz-grüne hessische Landesregierung hat Akten zu dem Fall für 120 Jahre weggeschlossen.
Junge Welt schreibt zu dem „Fall Temme“:
„Das Oberlandesgericht (OLG) München hält laut Beschluss vom 12. Juli 2016 für glaubwürdig, dass der als Zeuge gehörte Andreas Temme, der damals im Nebenraum saß, keine Schüsse gehört habe – ein Mann, der seine Freizeit im Schützenverein verbringt. Es hält für nachvollziehbar, dass der hessische Verfassungsschützer Temme, der kurz nach dem Mordanschlag das Café verließ, nach dessen Angaben auf der Suche nach dem jungen Besitzer, dreimal an dem Sterbenden vorbeigegangen war, ohne ihn hinter einem Tisch liegen zu sehen. Es hält für glaubwürdig, dass der rund 1,90 Meter große V-Mann-Führer weder die Blutspritzer auf dem 73 Zentimeter hohen Tisch sah, auf den er ein Geldstück für die Computernutzung legte, noch den dahinter liegenden Halit Yozgat.“.
Bei der Frankfurter Neue Presse heißt es in dem Artikel „NSU-Mordserie. Verfassungsschützer Temme: Nichts gesehen, nichts gehört.„:
„Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme war im Kasseler Internetcafé, als dessen Besitzer der NSU-Mordserie zum Opfer fiel. Doch gesehen oder gehört haben will der Mann davon nichts. Das beteuert er auch in seiner zweiten Vernehmung in Wiesbaden. (…) Im Gegenteil, von dem Mord am Donnerstag habe er erst am Sonntag durch das Lesen eines örtlichen Anzeigenblatts erfahren. Allerdings wusste Temme nach Zeugenaussagen schon einen Tag später, mit welcher Waffe das Verbrechen begangen wurde. Und das stand nicht in dem Anzeigenblatt, wie ihm die SPD-Abgeordnete Nancy Faeser vorhielt.“
Da hilft dann wohl nur noch das Wegschließen von Akten, um Verwirrung zu stiften und abzulenken und vielleicht auch, um Beweise verschwinden zu lassen. Telepolis schreibt dazu in dem Artikel „Verfassungsschutz will NSU-Bericht für 120 Jahre wegschließen„:
„120 Jahre – für diese Dauer hat das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) von Hessen einen internen Bericht gesperrt, in dem es auch um den NSU-Mord von Kassel und die mögliche Verwicklung seines Mitarbeiters Andreas Temme gehen dürfte. Das schürt einerseits den Verdacht: Was derart lange geheim gehalten werden soll, muss brisant sein. Andererseits kann diese absurde Sperrfrist als Botschaft verstanden werden an die Öffentlichkeit und diejenigen, die weiterhin aufklären wollen: ‚Von uns erfahrt Ihr nichts mehr. Gebt auf!‘ Es ist ein unverblümter Bruch einer Sicherheitsbehörde mit dem Legalitätsprinzip im Rechtsstaat BRD, Ausdruck des verzweifelten Abwehrkampfes gegen die anhaltenden Aufklärungsbemühungen im Mordkomplex NSU.“
Geheimdienstmann Temme bekam einen ruhigen Job im hessischen Innenministerium. Er wurde in das Kasseler Regierungspräsidium versetzt. Dieses wurde von dem vor wenigen Wochen ermordeten Walter Lübcke geleitet. Bei der Frankfurter Rundschau heißt es dazu:
„Der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) soll mindestens einmal an einem „CDU-Arbeitskreis im Verfassungsschutz“ teilgenommen haben, den auch der umstrittene ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme zeitweise aufsuchte. (…)
Andreas Temme war zeitweise unter Tatverdacht geraten, bis im Januar 2007 die Ermittlungen gegen ihn eingestellt wurden. Er kehrte nicht zum Verfassungsschutz zurück, sondern wurde zum Regierungspräsidium Kassel versetzt und „zum Amtmann befördert“, wie die Initiative schreibt. (…)
Sie führt die Ungereimtheiten auf, die mit Andreas Temme verbunden sind. So habe es nach den Erkenntnissen des NSU-Untersuchungsausschusses „kein echtes dienstrechtliches Disziplinarverfahren gegen ihn“ gegeben.“
Die Frankfurter Rundschau berichtete am 18. Oktober 2019 über Temme, der während der Ermordung von Yozgat in dem Internetcafé in Kassel anwesend war: „Der frühere hessische Verfassungsschützer Temme hatte dienstlich mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder zu tun.“
Das habe mit der Sache in Hanau natürlich nichts zu tun, heißt es in den Medien: „Hanau-Morde: Der falsche Täter in der Sisha-Bar„. Oh, Korrektur: Sie nehmen das Wort „NSU“ noch nicht einmal in den Mund.