Die us-amerikanische Luftwaffe hat das Krankenhaus der humanitären Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ im afghanischen Kunduz durch einen mehrwelligen Angriff mit Präzisionsbomben zerstört, obwohl allen Konfliktparteien mehrmals die Koordinaten des Krankenhauses mitgeteilt wurden und seine Lage und Funktion bekannt war. Vor einigen Tagen hatte die Organisation mitgeteilt, dass das Krankenhaus das einzig noch funktionsfähige in der Region sei. Momentan droht die Stadt Kunduz – und in gewisser Weise auch das Krankenhaus – den Taliban in die Hände zu fallen, die zumindest bereits Teile der Stadt kontrollieren. US-Präsident Barack Obama sprach hinsichtlich des Bomardements des Krankenhauses von einem „tragischen Zwischenfall“ …
Am 1. Oktober schrieb „Ärzte ohne Grenzen“ in der Meldung „‚Am Morgen hörte ich Einschläge von Granaten und Schreie, mittags befand sich die Frontlinie bereits an unserem Krankenhaus‘ – Bericht aus Kundus„: „Seit Tagen das einzige funktionierende Krankenhaus der Region. Das Krankenhaus ist komplett mit Patienten belegt. Normalerweise gibt es hier 92 Betten, die wir angesichts der Situation aber auf 150 ausgeweitet haben. Zudem füllen sich die Büros und Untersuchungszimmer zunehmend mit Menschen. Einige Patienten werden zunächst auf Matratzen gelegt, um sie zu stabilisieren. Es ist seit Tagen das einzige funktionierende Krankenhaus in der Region. Verwundete kommen aus der gesamten Stadt zu uns. Wir behandeln Frauen, Männer und Kinder – Zivilisten ebenso wie Kombattanten. Ethnische und politische Zugehörigkeiten spielen für uns keine Rolle. Wir helfen jedem Menschen, der vor der Tür seine Waffe ablegt. Ich bin sehr stolz auf unser Krankenhaus. Es ist auf chirurgische Eingriffe spezialisiert und das einzige dieser Art im gesamten Nordosten Afghanistans.“.
In dem Artikel „USA bombardieren Klinik in Kunduz: Obama spricht von ‚Tragödie‘“ von heute, 4. Oktober 2015, schreibt der Standard aus Österreich: „Der Sprecher der NATO-Mission in Afghanistan, Sernando Estreooa, erklärte: ‚Die US-Streitkräfte haben am 3. Oktober um 2.15 Uhr Ortszeit einen Luftangriff nahe der Einrichtung durchgeführt, wo einzelne Personen die Truppen bedrohten.‘ Der Sprecher der US-Streitkräfte in Afghanistan, Brian Tribus, räumte ein, dabei könnte versehentlich eine nahe gelegene medizinische Einrichtung getroffen worden sein. Der Vorfall werde untersucht. […] Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen wurden allen Konfliktparteien die genauen Geodaten ihrer Einrichtungen vorsorglich mehrfach übermittelt, zuletzt am 29. September. Nach Beginn des Angriffs habe man zudem das amerikanische und afghanische Militär erneut kontaktiert; dennoch habe das Bombardement noch mehr als 30 Minuten angehalten.“.
Am 29. September schrieb „Ärzte ohne Grenzen“ in dem Artikel „Ärzte ohne Grenzen behandelt zahlreiche Verletzte nach Kämpfen in Kundus„: „‚Wir sind mit allen Konfliktparteien in Kontakt. Uns wurde versichert, dass unser medizinisches Personal, die Patienten, das Krankenhaus und die Krankenwagen respektiert werden‘, erklärt Molinie. ‚Da das staatliche Provinz-Krankenhaus derzeit nicht in Betrieb ist, ist das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen das einzige in Kundus, in dem Verletzte dringend benötigte medizinische Behandlungen erhalten.‘ In dem Krankenhaus werden kostenlose, lebensrettende Trauma-Behandlungen angeboten, häufig zur Erhaltung von verletzten Gliedmaßen. Die Ärzte behandeln jeden Patienten, ungeachtet seiner ethnischen Herkunft und religiösen oder politischen Überzeugung.“.
Der Spiegel brachte gestern kurz vor Mitternacht einen Augenzeugenbericht eines Krankenpflegers aus dem angegriffenen Krankenhaus („US-Angriff auf Krankenhaus in Kunduz: ‚Die Patienten brannten in ihren Betten‘„). Darin heißt es: „Ich weiß es nicht mehr genau, aber wohl eine halbe Stunde später gab es keine Einschläge mehr. Ich ging mit unserem Projektleiter aus dem Schutzraum, wir wollten sehen, was passiert war. Wir sahen, wie das Krankenhaus in Flammen stand, es war komplett zerstört. […] es gibt keine Worte für so etwas: Auf der Intensivstation brannten sechs Patienten in ihrem Betten. Wir sahen nach unseren Kollegen, die im Operationsraum sein sollten. Es war schrecklich. Ein Patient lag auf dem OP-Tisch, tot, inmitten der totalen Zerstörung.“.
Ärzte ohne Grenzen schrieb gestern zu dem Angriff auf das Krankenhaus („Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen bei Luftangriff auf Krankenhaus in Kundus getötet – Lage des Krankenhauses war allen Konfliktparteien bekannt„): „Das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Kundus ist in der Nacht zum Samstag in Kundus mehrmals während anhaltender Bombardements getroffen und sehr stark beschädigt worden. Dabei sind neun Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen getötet worden. 37 Personen wurden schwer verletzt, darunter 19 Mitarbeiter. Das medizinische Team der Organisation arbeitet rund um die Uhr für die Sicherheit der Patienten und Patientinnen sowie des Krankenhauspersonals. Die Hilfsorganisation verurteilt den Angriff auf die vollbelegte medizinische Einrichtung auf das Schärfste und stellt klar, dass die präzise Lage des Krankenhauses (GPS-Koordinaten) an alle Konfliktparteien klar kommuniziert wurde, auch in Kabul und Washington.“.
Telepolis schrieb gestern („USA bombardieren Krankenhaus in Kundus„): „Am Montag eroberten etwa 700 paschtunische Taliban die nordafghanische Stadt Kundus, in der von 2003 bis 2013 die deutsche Bundeswehr stationiert war. Kundus ist seit den Ende des 19. Jahrhunderts unter britischer Oberaufsicht vorgenommenen Zwangsumsiedlungen des „Eisernen Emirs“ ein paschtunischer Wehrort innerhalb des Usbekengebiets […] Am Mittwoch meldete die afghanische Armee, sie habe die Stadt ‚weitgehend‘ zurückerobert. Da immer noch gekämpft wird, scheint diese Meldung nur bedingt zutreffend gewesen zu sein. Bei ihrem Rückeroberungsversuchen erhalten die Regierungstruppen Unterstützung von der US-Luftwaffe, die offiziell nur mehr zu Ausbildungszwecken im Land ist. Sie feuerte heute früh nach eigenen Angaben auf ‚Individuen, die eine Gefahr für die Streitkräfte darstellten‘ und räumt ein, dass es dabei ‚zu zivilen Opfern im nahe gelegenen Krankenhaus gekommen sein könnte‘. Mehr könne man derzeit nicht sagen, weil der Vorfall gerade untersucht werde.“.
Zeit Online berichtet in dem gestrigen Artikel „UN halten Angriff für ‚unentschuldbar und vielleicht sogar kriminell‘“ über die Reaktion der UNO auf den Angriff: „Die Vereinten Nationen haben den Bombenangriff kritisiert. ‚Krankenhäuser, in denen sich Patienten und medizinisches Personal befinden, dürfen niemals zum Angriffsziel werden‘, sagte der UN-Sondergesandte für Afghanistan, Nicholas Haysom. ‚Das internationale humanitäre Recht verbietet außerdem die Nutzung medizinischer Einrichtungen für Militärzwecke.‘. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat den Luftangriff scharf verurteilt. Wie sein Büro mitteilte, forderte er zugleich eine ‚gründliche und unabhängige Untersuchung‘, um festzustellen, wer verantwortlich sei.“. Die Verantwortlichkeiten sind doch eindeutig …
Ach ja: Die „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (die von einem Privatmann in England betrieben wird) – die berühmten, in den westlichen Medien so genannten „syrischen Aktivisten“ – versucht passend dazu, Russland das Bombardement eines Krankenhauses in Syrien unterzuschieben. Hierzu gibt es freilich keine Belege. Glücklicherweise ist das wohl nur eine Propagandalüge.
UPDATE:
Das Spiegelkabinett titelt: „Deutsche Medien entschuldigen Kriegsverbrechen der US-Luftwaffe in Kundus“ und bringt einige Textstellen dazu. Und im Jemen wurde vor einigen Tagen (wieder einmal) eine komplette Hochzeitsgesellschaft aus der Luft ermordet (Propagandaschau: „Propagandasender ARD und ZDF verschweigen und verharmlosen Massenmord und Kriegsverbrechen„. Hier wird auch das Bombardement des afghanischen Krankenhauses angesprochen.). 130 Frauen, Männer und Kinder fanden dabei den Tod.
UPDATE:
Ein Leser weist via Twitter darauf hin, wie der Angriff (ein klares Kriegsverbrechen) vom ZDF dargestellt wird: Heute-Nachrichten-Sendung vom 3. Oktober 2015, ab Minute 5:30 etwa. Es wird – natürlich – von einem Versehen der USA gesprochen (Dabei muss ja jemand die Koordinaten eingegeben beziehungsweise das Ziel bewusst ausgewählt haben). Der Hammer ist aber: Das ZDF bringt – unwidersprochen – eine „Rechtfertigung“ eines afghanischen Regierungsmitarbeiters (Sediq Sediqi, Sprecher des Innenministeriums Afghanistan). Diese wird vom ZDF eigens sogar als „Rechtfertigung für den Angriff“ präsentiert: In dem Krankenhaus hätten sich „10-15 Terroristen versteckt gehalten. Sie wurden alle getötet.“. Dazu ist klar zu sagen: Der Angriff auf ein Krankenhaus ist in jedem Fall ein Kriegsverbrechen, unabhängig davon, ob dort Feinde behandelt werden (oder sich verstecken – was aber wohl auch nicht zutraf). Wie kann das ZDF sich so die Leugnung eines Kriegsverbrechens zu eigen machen? Das ist unfassbar.
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