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Bei Einspruch Rufmord

Der Eindruck, es gäbe zur Corona-Krise nur einen Standpunkt, täuscht — unliebsame Experten werden schlicht überhört.

Man kann wie dieser Tage die Bundeskanzlerin vor einem Millionenpublikum die Coronakrise mit den „Herausforderungen des 2. Weltkriegs“ vergleichen und die Fieberkurve der allgemeinen Erregung weiter nach oben treiben. Wer dagegen äußert, „wir haben drei Epidemien: Influenza, da redet kein Mensch davon, Sars, davon reden sie von morgens bis abends, und Panik, das ist auch wie eine Virusepidemie“, den ereilt der Rufmord. Die Worte sagte vor zehn Tagen die Virologin Karin Mölling bei Radio Eins im Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Prompt sah sich die Redaktion zu einer „Klarstellung“ veranlasst. Die Einschätzung missachte den Zweck der durch die Bundesregierung angeordneten Maßnahmen und sei als „Einzelmeinung“ dazu angetan, die Lage zu verharmlosen.

Mölling ist nicht irgendwer. Die studierte Physikerin, Biochemikerin und Molekularbiologin war langjährige Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich und erhielt 2018 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Man darf annehmen, dass sie ihr Fach versteht. In besagtem Interview stufte sie die Gefährlichkeit des Sars-CoV2-Erregers auf einer Skala von eins bis zehn auf „drei bis vier“ ein. Am Mittwoch der Vorwoche sprach sie im TV-Sender Phönix von einer „milden Krankheit“, davon, dass die Virusinfektion „keine so wahnsinnig gravierende“ sei und mit dem Shutdown des öffentlichen Lebens der Bogen „weit überspannt“ werde. Im Gespräch mit dem Rubikon vom zurückliegenden Freitag präzisierte sie ihre Sicht der Dinge und bekräftigte:

„Ausgangssperren sind jetzt das falsche Mittel“.

Wo bleibt die Verhältnismäßigkeit?

Mit den neuesten Beschlüssen von Bund und Ländern von Sonntag, die je nach Bundesland ab Montag oder Dienstag flächendeckend bei Androhung von Strafe zu befolgen sind, ist das womöglich „falsche Mittel“ jetzt deutschlandweit Lebenswirklichkeit. Um bei der als Corona-Verdachtsfall inzwischen selbst in Quarantäne weilenden Angela Merkel (CDU) zu bleiben: Im 2. Weltkrieg starben bis zu sieben Millionen Deutsche. Dem sogenannten neuartigen Coronavirus fielen nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) hierzulande bis Montag 86 Menschen zum Opfer, während die Johns Hopkins University über Hundert Verstorbene zählte.

Es drohen aber doch viel mehr zu werden, unkt es gebetsmühlenartig über alle Kanäle, und nur durch rigoroses Handeln sei ein Massensterben und der Kollaps des Gesundheitssystems abzuwenden. Zur Einordnung: Die Grippesaison 2017/18 ging gemäß Statistik mit 16 Millionen an Grippe Erkrankten (davon neun Millionen Influenzainfizierte) einher und forderte bis zu 25.000 Todesopfer, wie jetzt auch zumeist ältere Patienten und solche mit Vorerkrankungen. Wurde seinerzeit der medizinische Notstand ausgerufen oder auch nur erwogen, ganz Deutschland dicht zu machen? Warum ist jetzt alles anders?

Eine mögliche Antwort liefert der Lungenfacharzt und frühere Bundestagsabgeordnete der SPD Wolfgang Wodarg. Er hat als erster Experte öffentlich beim ZDF-Magazin Frontal 21 vernehmbar dem beherrschenden Tenor widersprochen, wonach das neu aufgetauchte Virus eine ernste Bedrohung für die Menschheit darstellt. „Neuartig“ sei der Erreger nur deshalb, weil neuerdings darauf getestet werde und ihm ein Name verpasst wurde. Coronaviren würden seit langem regelmäßig in den Herbst- und Wintermonaten auftreten und stünden dabei auch im Zusammenhang mit schweren Erkrankungen und Todesfällen.

Andersdenkende aufs Schafott

Wodarg türmt auf seiner Webseite mittlerweile haufenweise Belege auf, die seine Sichtweise stützen sollen, darunter eine mehrjährige Studienreihe aus Schottland. „Selbst bei einem nur leichten ‚grippalen Infekt‘ bestehe nach deren Ergebnissen „ein sieben bis 15prozentiges Risiko, dass Corona-Viren nachgewiesen werden“. Im Unterschied zu heute seien diese Fälle bisher aber nicht gesondert identifiziert, sondern unter der saisonalen Grippe subsumiert worden. Weil die Verläufe bei Covid-19 jedoch denen bei Grippeerkrankungen, etwa denen durch Influenzaviren ausgelösten, sehr ähnelten, mithin im Durchschnitt sogar milder ausfielen, dürfe das Phänomen nicht dramatisiert werden und schieße die Politik mit ihrem Vorgehen übers Ziel hinaus, meint Wodarg.

Man muss diese Position nicht teilen, aber man sollte sie wenigstens hören und diskutieren dürfen. Aber so weit darf es nicht kommen. Zunächst wurde sie im gleichgeschalteten Medienbetrieb lange Zeit eisern unterdrückt, bis sich irgendwann auch zu den Garanten und Pflegern der geistigen Volksgesundheit herumgesprochen hatte, dass Wodargs Einlassungen im Internet in die Decke gehen. Seither erlebt man das oft Dagewesene: Der Andersdenkende wird zum Paria gestempelt. Praktisch alle Presseorgane mit Rang haben inzwischen Features über den „Tatsachenverdreher“ lanciert und seine „steilen Thesen“ als Spinnerei und Fake-News aus den finsteren Untiefen des Netzes diffamiert.

Boulevard der (Un)-Glaubwürdigkeiten

Wie das geht, hat das Schweizer Boulevardblatt Blick vorgemacht. Deren Macher beglückten die Leserschaft jüngst mit einem „Karussell der Koryphäen in der Corona-Krise“ und einem Ranking von Experten, denen man vertrauen kann – oder besser nicht. Wodarg landet ganz unten. „Glaubwürdigkeit: Sehr niedrig. Trotz gelegentlich interessanter Ansätze im Hinblick auf Corona grob fahrlässig.“ Entlarvend sollen auch die Stationen seiner Vita wirken. „Seine medizinische Doktorarbeit widmete er psychiatrischen Erkrankungen von Seeleuten.“ Das sitzt: Wer am Oberstübchen von Matrosen rumdoktert, hat selbst einen an der Waffel. Dagegen wird über den Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité festgehalten: „Fähigster Corona-Experte im deutschen Sprachraum“ – Wer hätte es geahnt?

Der Gescholtene selbst ist nach dem Rummel um seine Person nach Griechenland „geflohen“, von wo aus er täglich mit neuem Material wider die herrschende Hysterie nachlegt. Für eine objektive, sachliche und faire Auseinandersetzung mit seinen Standpunkten ist in den nur noch Möchtegern-Massenmedien kein Platz mehr. Inzwischen hat auch Frontal 21 das Video mit Wodarg offline gestellt. Begründung: Wegen des Gangs der Ereignisse sei es „überholt“. So wird sein schillerndes Dasein im Netz zur self-fulfilling prophecy. Nur dort könnten „Spinner“ wie er ihr Unwesen treiben. Dass er dorthin getrieben, weil von den Gatekeepern der sogenannten Demokratie und Meinungsfreiheit aus dem öffentlichen Scheinwerferlicht verbannt wurde, soll besser nicht durchschaut werden.

Dabei ist auch Wodarg kein unbeschriebenes Blatt. Er ist Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin und hat als Amtsarzt 13 Jahre lang das Gesundheitshaus Flensburg geleitet. In dieser Funktion hatte er unter anderem genau das zu tun, was jetzt das RKI im Großen macht: die Risikobewertung bei Gefahren für die öffentliche Gesundheit. Bei einer Virusepidemie braucht es dafür allerdings eine verlässliche Datenlage, um daraus auf die relative Häufigkeit von schweren Erkrankungen oder Sterberaten zu schließen. Diese Daten hat man aber gegenwärtig nicht und kann sie gar nicht haben.

Notstand auf dünner Datenbasis

Erstens fehlen die Vergleichszahlen aus den Vorjahren, weil es da Covid-19 als amtliche Krankheit gar nicht gab, und zweitens lässt sich nicht ermessen, wie viele Menschen in Deutschland den Erreger wirklich in sich tragen. Der weitüberwiegende Teil der Infizierten zeigt nur milde bis moderate Symptome, manche bleiben gänzlich symptomfrei. Weil nicht jeder mit einem Husten und bei der Aussicht auf Zwangsinternierung gleich zum Arzt rennt, könnte die Dunkelziffer der vom Virus Befallenen selbst nach RKI-Einschätzung bis zu elfmal höher sein, als die offizielle Statistik ausweist.

Dazu kommt: Der zuhauf genutzte Schnelltest zum Nachweis von Antikörpern erkennt bis zu zwei Drittel der Infizierten gar nicht. Die vom RKI angegebenen Letalitätsraten in der Bandbreite zwischen einem bis zwei Prozent gründen nicht bloß auf dieser gewaltigen Unwägbarkeit. Die Tests wurden überdies nur bei Menschen mit Symptomen, Krankenhauspatienten, Altenheimbewohnern und anderen Gruppen mit erhöhtem Risiko vorgenommen. Daraus eine bis zu zehnmal höhere Sterblichkeit als bei Influenzainfektionen abzuleiten, ist wissenschaftlich völlig haltbar.

Das ist mitnichten eine Einzelmeinung, wie man den Menschen weismachen will. „Die Verantwortlichen tischen uns jeden Tag einen neuen Zahlensalat auf“, sagt etwa der Epidemiologe Ulrich Keil im Gespräch mit dem Rubikon und beklagt, dass der angewandte Test im Sinne von guter epidemiologischer Praxis nie richtig validiert wurde. Auch Keil ist ein anerkannter Fachmann. Der 76jährige war Direktor des Instituts für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Münster, arbeitete über Jahrzehnte als Berater der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und fungierte bis 2002 als Vorsitzender der Europäischen Region der International Epidemiological Association (IEA), des Weltverbands der Epidemiologen.

Sterbeziffern „viel zu hoch“

Er erachtet die kursierenden Letalitätsziffern als „vermutlich viel zu hoch“. Ein genaues Bild über die Gefährlichkeit des Virus erhalte man erst, „wenn wir repräsentative Zufallsstichproben der Bevölkerung testen“. In diesem Fall rechnet er mit Raten „von 0,05 bis höchstens 1,0 Prozent“. Die Spannweiten für die saisonale Grippe liegen zwischen 0,1 bis 0,5 Prozent. Bei der sogenannten Schweinegrippe vor zehn Jahren habe die Quote nur 0,1 Prozent betragen. Apropos Schweingrippe: Keil weist in diesem Zusammenhang auf ein schwerwiegendes Versäumnis hin. Bei der Aufarbeitung der Ereignisse sei bei einem WHO-Symposium im September 2010 in Luzern eindringlich darauf hingewiesen worden, eine verbesserte Infrastruktur für die Erhebung von Daten zu schaffen. So habe man schon damals die besondere Bedeutung der Untersuchung von Zufallsstichproben der Bevölkerung hervorgehoben.

„Bedauerlicherweise wurde von den damaligen Forderungen bis heute nichts umgesetzt, stattdessen flossen die Forschungsgelder in die molekulargenetische Grundlagenforschung.“ Dabei könne die Virologie alleine die für die Bevölkerung so wichtige Frage nach der Gefährlichkeit des Virus gar nicht beantworten, gibt Keil zu bedenken. „Gute epidemiologische Daten sind hier unverzichtbar.“ Ein Jahrzehnt später fände man jetzt abermals eine „desolate Datenlage“ vor und man treffe weitreichende Entscheidungen, „die aber wenig evidenzbasiert sind“. Wie Wodarg mutmaßt deshalb auch Keil, „dass wir wahrscheinlich gerade eine ‚Testepidemie‘ erleben“. Ohne den von Drosten entwickelten PCR-Test „wäre dieses Virus nicht entdeckt und die Covid-19-Pandemie in der jährlichen Grippesaison untergegangen“.

Den fraglichen Test hat Drosten als Leiter der Virologie der Charité auf Bitten von Kollegen aus dem chinesischen Wuhan nach Auftreten der ersten auffälligen Lungenkrankheiten entwickelt. Dabei wurde allerdings nicht das Virus im Original herangezogen. Statt dessen behalf man sich mit früheren Coronaviren „mit genetischer Nähe“. Kritiker warnen deshalb vor einer mangelnden Zielgenauigkeit, so dass womöglich auch andere Erreger als Sars-CoV2 auf das Verfahren anschlagen würden. Das könnte erklären, warum mitunter Fälle ohne typische Krankheitsmerkmale positiv getestet werden. Selbst die Möglichkeit, dass nicht überall der exakt gleiche Erreger virulent ist oder in Kombination mit anderen wirkt, wäre nicht auszuschließen und mithin ein weiterer Deutungsansatz für die zugespitzte Lage in Italien.

Virencocktails statt Virus pur

„Überhaupt hat man es bei Epidemien immer mit Virencocktails zu tun“, erläutert Keil. Dagegen hätten Virologen mehrheitlich eine „sehr monokausale Sichtweise, nach dem Motto: Ein Virus – eine Krankheit – eine Todesursache“. Dazu könnten auch neue Befunde des Virologen Hendrik Streeck von der Universität Bonn passen. In seiner Verantwortung liegt der Landkreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen mit den bislang meisten nachgewiesenen Coronainfektionen. Laut Streek beschreiben zwei Drittel der Betroffenen einen mehrtägigen Geruchs- und Geschmacksverlust, ein Symptom also, das man aus China nicht kannte. Auch litten mehr Menschen an Durchfall, „als bisher angenommen wurde“.

Streeck neigt indes – anders als seine Kollegen beim RKI – nicht zum Alarmismus. „Der neue Erreger ist gar nicht so gefährlich, er ist sogar weniger gefährlich als Sars-1“, bemerkte er vor einer Woche in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Der dadurch ausgelösten Epidemie erlagen 2002 und 2003 bei knapp über 8.000 registrierten Fällen weltweit 774 Menschen. Sars-2 ist nach Streecks Angaben zwar infektiöser, geht dafür aber seltener auf die Lunge – dann allerdings mit schweren Verläufen. Das jedoch kennt man auch von Influenzaviren, die bei immerhin 14 Prozent der Fälle zu ernsten Komplikationen führen. „Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster“, gab der Virologe zu Protokoll: „Es könnte durchaus sein, dass wir im Jahr 2020 zusammengerechnet nicht mehr Todesfälle haben werden als in jedem anderen Jahr.“

Dasselbe könnte sich auch für das besonders schwer gebeutelte Italien herausstellen. Nach den Ergebnissen einer Studie vom August 2019 waren dort im Zeitraum zwischen 2013/14 und 2016/17 mehr als 68.000 Todesfälle auf das Konto von Gripperkrankungen gegangen. Die Zahlen reichen für die einzelnen Jahre von 7.000 bis zu 25.000 Opfern. Die Werte sind wegen des weit überdurchschnittlichen Altersmeridians der italienischen Bevölkerung in Relation zur Gesamteinwohnerzahl höher als in anderen europäischen Ländern und liefern – neben der Luftverschmutzung und den engen Familienbanden – die wohl stichhaltigste Erklärung für die derzeitige Notlage.

„Kollektiver Selbstmord“

Im Gespräch mit dem Stern-Magazin befand der Bonner Virologe Streeck vor vier Tagen dann noch folgendes: „Wir tun gerade alles, um unserem Immunsystem zu schaden: Wir gehen weniger an die Sonne, bewegen uns kaum noch, ernähren uns womöglich auch noch schlecht. Wir müssen den Leuten doch die Möglichkeit geben, sich fit zu halten, gesund zu bleiben und ihr Immunsystem zu stärken. Darum bin ich ganz entschieden gegen eine Ausgangssperre.“

Mit Sucharit Bhakdi hat inzwischen auch einer der international angesehensten Infektiologen und meistzitierten Medizinforscher Deutschlands das Wort ergriffen. „Um zwischen Ursache und Nebensache (einer Krankheit) unterscheiden zu können, bräuchte man Daten zum Krankheitsverlauf und zu den Hintergründen des Todes. Die haben wir nicht“, erklärt er in einem Video. An anderer Stelle spricht er von einem „Fehlschluss“ der Politik und ihren Beratern, einem „Spuk“, der großen Schaden anrichte. „Ich kann nur sagen, diese Maßnahmen sind selbstzerstörerisch. Wenn die Gesellschaft diese akzeptiert und durchführt, gleicht dies einem kollektiven Selbstmord“.

Gegen den überall ausgebrochenen Aktionismus wendet sich mit John Ioannidis überdies einer der renommiertesten Gesundheitswissenschaftler weltweit, der seit einiger Zeit auch Einstein-Fellow an der Berliner Charité ist. Die Entscheider richteten ein „Fiasko“ in Gesellschaft und Wirtschaft „ohne zuverlässige Datenbasis“ an, beklagte er in einem Beitrag für das US-Nachrichtenportal Stat-News vom Dienstag der Vorwoche.

Der Stanford-Professor für Medizin und Epidemiologie vergleicht darin die Regierungen dieser Erde mit einem von einer Hauskatze attackierten Elefanten. Das Ende vom Lied:

Angsterfüllt und frustriert springt der Dickhäuter von einer Klippe – ins Verderben.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Rubikon-Magazin.
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