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Massenmediale Ideologieproduktion

Prof. Rainer Mausfeld im Interview mit Jens Wernicke. Exklusivabdruck aus dem Buch „Lügen die Medien?“.

Herr Mausfeld, die Deutschen trauen ihren Medien nicht mehr. Die einen sprechen von journalistischen Fehlleistungen, die Einzelfälle seien; andere nehmen umgehend Worte wie »Propaganda« und »Lüge« in den Mund. Was erleben wir hier? Und was sind, ganz allgemein gesagt, Rolle und Funktion der Medien in unserem Land?

Das Misstrauen in Medien, vor allem in sogenannte Leitmedien, hat tatsächlich in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Beispielsweise hatten 2015 einer repräsentativen Umfrage der ZEIT zufolge 60 Prozent der Befragten wenig oder kein Vertrauen in die Medien. Ähnliche Befunde zeigten sich in anderen Umfragen. Dafür gibt es gute Gründe, die vielfach analysiert und dargelegt wurden.

Interessanter scheint mir aber der komplementäre Aspekt. Denn der Indoktrinationscharakter der Leitmedien wurde ja mittlerweile auch in zahlreichen empirischen Studien zu konkreten Themen – Stichworte: Kosovo, Irak, Afghanistan, Griechenland, Ukraine und Syrien – wieder und wieder nachgewiesen. Damit stellt sich die Frage, warum noch immer so viele Menschen Vertrauen in die Medien haben. Immerhin halten – einer WDR-Infratest-Umfrage vom Dezember 2016 zufolge – 72 Prozent das öffentlich-rechtliche Fernsehen und 65 Prozent die Tageszeitungen für glaubwürdig. Nur 20 Prozent sind der Überzeugung, dass in Tageszeitungen gelogen, also absichtlich die Unwahrheit gesagt wird, und nur 30 Prozent glauben, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gelogen wird. Ähnliche Befunde erbrachte eine repräsentative Umfrage der Universität Mainz, der zufolge 40 Prozent der Deutschen der Ansicht sind, man könne den Medien »in wichtigen Fragen eher oder voll und ganz vertrauen«.

So viel Vertrauen in die Medien ist angesichts der grotesken und eigentlich offenkundigen Verzerrungen ihrer Berichterstattung über relevante politische Ereignisse überraschend und erklärungsbedürftig. Die Vermutung drängt sich auf, dass die immer noch hohen Glaubwürdigkeitswerte keineswegs eine Eigenschaft der Medien widerspiegeln, sondern vielmehr überwiegend eine Eigenschaft der Mediennutzer, nämlich den Grad ihrer bereits erfolgten Indoktrination. Es wäre daher interessant, die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Medien umzukehren und zu fragen, warum immer noch so viele Deutsche den Medien vertrauen. Und es wäre lohnend und politisch wichtig, systematisch zu untersuchen, worin die tieferen Ursachen für eine solche verzerrte Wahrnehmung der Medien liegen.

Zugleich ist es jedoch richtig, dass das Misstrauen in die Medien in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen ist: 2008 waren 9 Prozent der Überzeugung, dass man den Medien in wichtigen Fragen eher nicht oder überhaupt nicht vertrauen könne, 2016 – einer Umfrage der Universität Mainz zufolge – bereits 25 Prozent. Ein wachsender Teil der Bevölkerung wird sich also des Indoktrinationscharakters der Medien zunehmend bewusst. Damit ist insgesamt hinsichtlich der Beurteilung der Medien eine wachsende Polarisierung der Bevölkerung zu beobachten.

Wenn man den Indoktrinationscharakter der Medien besser verstehen will, muss man zunächst ihre politischen und ökonomischen Funktionen in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung untersuchen. Dazu ist es wichtig, normative Aspekte der Rolle von Medien in einer Demokratie von deskriptiven Aspekten ihrer tatsächlichen Funktionsweise in kapitalistischen westlichen Demokratien zu unterscheiden. Beide Aspekte lassen sich, unabhängig von notwendigen Nuancierungen, im Kern recht einfach beschreiben.

Dann beschreiben Sie sie doch bitte kurz…

Gern. Zuerst einmal: Was den normativen Aspekt betrifft, so kommt in einer wirklichen Demokratie den Medien – ebenso wie dem Bildungswesen – eine ganz besondere Funktion zu. Denn eine Demokratie stellt in vielerlei Hinsicht psychisch und kognitiv höhere Anforderungen an jeden Einzelnen als andere Staatsformen dies tun. Sie muss den Einzelnen zu einer solidarischen aktiven Teilhabe am Gemeinwesen befähigen. Sie setzt mündige Bürger voraus – also über alle relevanten Belange des Gemeinwesens informierte Bürger, die sich eigenständig und sozialverantwortlich ein angemessenes Urteil zu bilden vermögen. Da dieses Gemeinwesen weit über den jeweils individuellen Erfahrungsbereich hinausreicht, werden Medien benötigt, um einen kollektiven Erfahrungsraum herzustellen und dadurch ein bewusstes Erleben und Verstehen von Gesellschaft überhaupt erst zu ermöglichen. Sie dienen also dazu, uns indirekte, nämlich medial vermittelte Erfahrungen über sozial relevante Aspekte der Welt und der Gesellschaft bereitzustellen, durch die erst unser Bild von der gesellschaftlichen und politischen Realität erzeugt und geformt wird. Auf diese Weise sollen sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, uns zu einer solidarischen Teilhabe an allen politisch relevanten Aspekten des Gemeinwesens zu befähigen. Eine wirkliche Demokratie stellt also höhere Anforderungen an die Qualität ihrer Medien und ihres Bildungswesens als andere Staatsformen.

Um diese normative Funktion erfüllen zu können, darf das durch die Medien vermittelte Bild der politischen Realität nicht in systematischer Weise zugunsten bestimmter Interessengruppen verzerrt sein. Da Medien den öffentlichen Diskussionsraum erst schaffen, müssen sie allen gesellschaftlichen Gruppen ein Sprachrohr bieten, mit dem sich diese gleichberechtigt in den öffentlichen Diskussionsraum einbringen können.

Es gibt in einer Demokratie, die diesen Namen verdient, noch viele weitere normative Funktionen von Medien, doch die genannten Aspekte genügen bereits, um angesichts unserer gesellschaftlichen Realität den illusorischen Charakter solcher Forderungen und Bedingungen zu verdeutlichen.

Das liegt im Wesentlichen daran, dass schon die Prämisse nicht stimmt, dass wir nämlich in einer wirklichen Demokratie lebten.

Die gegenwärtigen Formen repräsentativer Demokratien sind Elitedemokratien, also de facto Wahloligarchien. Seit ihren historischen Anfängen wurde die Idee einer »repräsentativen Demokratie« mit der Absicht entwickelt, das als irrational, infantil und launenhaft angesehene »dumme Volk« von politischer Macht und Einfluss fernzuhalten.

Die Etablierung einer repräsentativen Demokratie war also explizit dazu gedacht, eine wirkliche Demokratie im Sinne der Ermöglichung einer angemessenen Teilhabe, also Partizipation, der Bürger am Gemeinwesen und einer Volkssouveränität zu verhindern. Warum sollten Machteliten auch ein Interesse an wirklicher Demokratie haben, wo eine solche doch ihren Status gefährdete? Das ist ein schwieriger Punkt, den man sorgfältig historisch nachzeichnen müsste.

Die deskriptiven Aspekte der tatsächlichen Funktionsweise der Medien innerhalb der Herrschafts- und Machtbeziehungen in kapitalistischen westlichen Demokratien sind seit mehr als hundert Jahren vielfältig untersucht worden, und es gibt zu diesem Thema reiches empirisches Material. Es belegt in geradezu überwältigender Weise, dass die Medien vorrangig dazu dienen, den gesellschaftlichen und ökonomischen Status derer zu stabilisieren, in deren Besitz sie sind oder von denen sie ökonomisch abhängig sind. Das impliziert insbesondere, dass sie die politische Weltsicht der jeweils herrschenden ökonomischen und politischen Eliten vermitteln, sodass natürlich auch die Auswahl und Interpretation von Fakten hierdurch bestimmt ist.

John Dewey, der sehr einflussreiche liberale amerikanische Philosoph und Pädagoge, hat den Kern des skizzierten Problems bereits im Jahr 1935 in seinem Aufsatz »Our un-free press« auf den Punkt gebracht: Es gehe nicht darum, »wie viele spezifische Missbräuche es gibt und wie sie behoben werden können«, sondern darum, dass man die »notwendige Wirkung des vorliegenden Wirtschaftssystems auf das gesamte System der Öffentlichkeit« untersuchen und fragen muss, »wie weit echte geistige Freiheit und soziale Verantwortung in irgendeinem größerem Umfang unter den Bedingungen der bestehenden Wirtschaftsordnung überhaupt möglich sind«. Das ist die eigentliche Kernfrage. Denn unter den gegenwärtigen Bedingungen arbeiten private Massenmedien zwangsläufig gegen den Prozess einer Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Es ist aufschlussreich, dass sich der gegenwärtige Diskussionsraum der als »vernünftig« angesehenen Fragen inzwischen so verengt hat, dass die Dewey’sche Frage heute als außerhalb des Bereichs akzeptabler Fragen liegend angesehen wird.

Unter den, wie Dewey schreibt, »Bedingungen der bestehenden Wirtschaftsordnung« sind Medien bereits durch die Besitzverhältnisse in ökonomische Machtstrukturen eingebunden. Schon Noam Chomsky und Edward S. Herman haben in ihrer klassischen Analyse – die sie in Form ihres »Propagandamodells« zusammengefasst haben – aufgezeigt, dass dies gewaltige Konsequenzen hat. Durch ihre Einbindung in ökonomische Machtstrukturen werden Medien nahezu zwangsläufig zu einem höchst wirksamen Instrument mächtiger ökonomischer Lobbygruppen, die sich auf diese Weise verdeckt in den öffentlichen Diskussionsraum einbringen und das Meinungsklima für ihre Belange günstig stimmen können.

Folglich spiegeln Medien bestehende Machtstrukturen nicht nur wider, sondern werden zunehmend selbst zu politischen Akteuren zur Stabilisierung und Erweiterung dieser Strukturen. Entgegen ihrer Selbstidealisierung als »vierte Gewalt« üben sie durch ihre politischen und ökonomischen Verflechtungen mit den herrschenden Eliten gegenüber den politischen Zentren keine wirksame Kontrollfunktion aus; sie sind keine Wachhunde des öffentlichen Interesses gegenüber den Zentren der Macht, sondern vielmehr ihre Schutzhunde. Sie fungieren durch die Art der Nachrichtenselektion und Nachrichteninterpretation als Torwächter und Weichensteller bei der Formung des öffentlichen Diskussionsraumes und also Bewusstseins.

Also eine groß angelegte Verschwörung der Eliten gegen das Volk?

Nein, ganz sicher nicht. Und zwar aus einem einfachen Grund: Für all das bedarf es überhaupt keiner »Verschwörung« der Medien mit den Zentren der Macht. Da wir von Natur aus dazu neigen, bei Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene Ursachenzuschreibungen lieber in personalen Kategorien als in abstrakten strukturellen Wirkfaktoren zu denken, ist es aus psychologischer Sicht verständlich, dass viele den hohen Grad medialer Synchronisierungen und medialer Verzerrungen der politischen Realität personalen Wirkfaktoren, also beispielsweise Absprachen und Verschwörungen, zuschreiben. Das spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass 44 Prozent der Bundesbürger nach einer repräsentativen FORSA-Umfrage von 2015 der Aussage zustimmen, dass Medien »von oben gesteuert« würden. Tatsächlich jedoch geht eine solche personelle Interpretation an den wirklichen Wirkfaktoren vorbei, die überwiegend struktureller Natur sind.

Das gesamte Mediensystem ist in seiner ökonomischen und organisatorischen Struktur so aufgebaut, dass es gar keiner gezielten personellen Steuerung bedarf. Seine Konformität zur herrschenden Ideologie ergibt sich bereits aus Filtermechanismen, die eine direkte Folge der strukturellen ökonomischen Machtbeziehungen sind, in die die Medien eingebettet sind.

Diese Filtermechanismen beziehen sich zum einen auf die Auswahl von Nachrichten: Nur wenige große kommerzielle Agenturen dominieren die Bereitstellung des Nachrichten-Ausgangsmaterials, aus dem sich dann die Medien bedienen. Bereits durch diese Art der Filterung lassen sich die öffentliche Aufmerksamkeit und die gewünschten Interpretationsrahmen sehr wirkungsvoll lenken. Zum anderen beziehen sich diese Filtermechanismen auch auf die Auswahl von Journalisten. Die Filtermechanismen für eine journalistische Karriere, also für eine Auswahl und Förderung von Redakteuren, die »richtig denken«, sind ebenso vielfältig wie komplex. Sie spiegeln stillschweigende ideologische Grundannahmen und gemeinsame politische Weltsichten der Medienbetreiber wider und sorgen wirksam für eine ideologische Stabilität des Mediensystems. Zu diesen beiden Filterfaktoren kommen weitere hinzu, die sich aus strukturellen Mechanismen einer Anpassung an die aus Eigentumsverhältnissen sowie ökonomischen und politischen Gegebenheiten resultierenden Zwänge ergeben. Die Struktur des Mediensystems ist bereits durch seine Einbindung in Machtstrukturen so beschaffen, dass personelle Absprachen und »Verschwörungen« im traditionellen Sinne weitgehend überflüssig sind.

Warum konkret verlieren die Nutzer gerade jetzt das Vertrauen in den Wahrheitsgehalt der alltäglichen Indoktrination?

Dafür lassen sich, wie mir scheint, vor allem drei Wirkfaktoren verantwortlich machen. Alle drei sind eigentlich recht naheliegend und wurden auch bereits umfassend analysiert. Zum einen ist da der Grad der Meinungshomogenität innerhalb des Spektrums unterschiedlicher Gruppierungen ökonomischer und politischer Eliten. Die Spannbreite der Interessensunterschiede zwischen unterschiedlichen Elitegruppierungen hat sich in den letzten Jahren enorm verringert – vor allem durch den Siegeszug des Neoliberalismus und durch die Dominanz transatlantischer hegemonialer Interessen nach dem Zerfall der Sowjetunion.

In diesem Prozess sind dann politisches, ökonomisches und publizistisches Establishment in ihren Perspektiven weitgehend deckungsgleich geworden. Im Zuge dieses Prozesses ist auch der notwendige Grad der Pluralität der Medien mehr und mehr verloren gegangen. Dadurch hat sich ein Grad der Homogenisierung und ideologischen Uniformität ergeben, der wohl auch im historischen Maßstab seinesgleichen sucht.

Gegenwärtig haben die Leitmedien in ihrer Bereitschaft und Willfährigkeit, das Weltbild transatlantischer neoliberaler Eliten zu vermitteln, ganz offensichtlich jedes Maß verloren.

Das hat zur Folge, dass die Medien Fakten, die nicht in dieses Weltbild passen, immer hemmungsloser verschweigen oder verzerren. So erschaffen sie medial eine gesellschaftliche und soziale Realität, in der die wichtigsten Fragen gar nicht erst vorkommen und die tatsächlichen Konflikte vernebelt und verschleiert werden.

Und das spüren die Menschen natürlich, der eine mehr, der andere weniger konkret: »Irgendetwas stimmt da absolut nicht mehr mit und in unseren Medien! Nur was …?«

Ja. Selbst der damalige Herausgeber der FAZ Frank Schirrmacher warnte in Anbetracht dieser Entwicklungen bereits im Jahr 2009 – bezogen auf die öffentlich-rechtlichen Medien – vor den Gefahren einer »staatlich kontrollierten Bewusstseinsindustrie«. Mir allerdings scheint dieser von Enzensberger geprägte Begriff der »Bewusstseinsindustrie« – ebenso wie der ihm vorausgehende Adorno’sche Begriff der »Kulturindustrie« – inzwischen fast verharmlosend zu sein. Denn es geht ja nicht einfach um eine abgrenzbare Sparte im Bereich kapitalistischer Warenproduktion, die »Bewusstsein« zu einer Ware macht. Vielmehr ist inzwischen der gesamte Bereich der öffentlichen Meinung – von den Medien hin zu Schulen und Universitäten – längst so tief und flächendeckend von Mechanismen der Ideologievermittlung durchzogen, dass sich die Tiefen­indoktrination nunmehr selbstreferentiell und autonom aus der bestehenden sozialen Ordnung selbst zu nähren vermag. Wir alle sind unbewusst mehr oder weniger zu ihrem Träger geworden und stützen und verbreiten sie tagein, tagaus.

Das bedeutet?

Wir schwimmen in der herrschenden Ideologie wie Fische im Wasser und bemerken sie daher gar nicht mehr. Die ideologischen Rahmenerzählungen sind mittlerweile so tief in unserer Kultur verankert, dass wir sie als ideologische Elemente gar nicht mehr bemerken.

Beispielsweise die meritokratische Ideologie einer »Leistungsgesellschaft«, in der der soziale Status eines Menschen durch seine individuell erbrachten Leistungen bestimmt werde. Unsere Gesellschaft ist dieser Ideologie zufolge gerecht, denn sie offeriere ja »Chancengerechtigkeit«. Der meritokratische Zirkelschluss der Erfolgszuschreibung lautet: Wer »oben« ist, ist zu Recht oben, denn sonst wäre er ja nicht oben. Wer »unten« ist, ist zu Recht unten, denn hätte er sich wirklich angestrengt, wäre er ja weiter oben; da er dies aber nicht ist, hat er sich sein Los also selbst zuzuschreiben.

Das ist die Basisideologie unserer Gesellschaft. Durch sie werden die durch unsere Wirtschaftsordnung hervorgebrachten Verlierer gleichsam ein zweites Mal bestraft, indem man sie nun auch noch der sozialen Verachtung und Geringschätzung preisgibt.

Weitere Beispiele der vielen ideologischen Elemente, die unsere Gesellschaft durchziehen und die wir kaum mehr als Ideologien bemerken, sind die neoliberale Ideologie eines »freien Marktes« oder die neoimperialistische Ideologie einer »westlichen Wertegemeinschaft«, deren Taten von wohlwollenden und hehren Idealen geleitet seien. Für all diese Dinge gilt die Wittgenstein’sche Bemerkung, dass wir es – also diese Ideologien und ihre inhumanen Wirkungen – gar nicht sehen können, weil wir es immer vor Augen haben: Diese Ideologien sind in unserer Gesellschaft zu kaum mehr hinterfragbaren Selbstverständlichkeiten geworden.

Bei einigen aktuellen Ereignissen können nun bisweilen die Fakten jedoch so offenkundig den offiziellen Rahmenerzählungen widersprechen, dass größere Teile der Bevölkerung sich des ideologischen Charakters der durch die Medien vermittelten »Interpretationen« stärker bewusst werden. Eklatante jüngere Beispiele sind die Berichterstattungen über die gezielt herbeigeführten Krisen in Griechenland, der Ukraine und in Syrien, die Dämonisierung Putins und die Russlandhetze, die voreingenommenen und oft hämischen Berichte über Corbyn und Sanders sowie die Verschleierung der Folgen der gravierend gewachsenen sozialen Ungleichheit.

In derartigen Fällen einer mehr oder weniger offenkundigen Diskrepanz zwischen Mediendarstellung und Fakten sind dann häufig größere propagandistische Anstrengungen nötig, damit die Bevölkerung wieder das denkt und das will, was sie denken und wollen soll. Für die Planung und Ausführung solcher »Korrekturen« an der öffentlichen Meinung gibt es tatsächlich eine Art gesteuerter »Industrie« in Form von global agierenden PR-Agenturen, Think-Tanks, transatlantischen Netzwerken und geeigneten NGOs – eine »Industrie« zur Kontrolle der öffentlichen Meinung, die über Jahrzehnte systematisch auf- und ausgebaut worden ist.

Auch dies ist in vielen Studien von Sozialhistorikern, Soziologen und anderen sorgfältig dokumentiert und analysiert worden. Enzenbergers Einsicht, dass die »Bewusstseinsindustrie« gerade dazu dient, das Bewusstsein von Armut und Ausbeutung unmöglich zu machen und auf diese Weise deren Bekämpfung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen, ist also aktueller denn je.

Seit Enzensbergers Essay hat sich ja nicht nur die »Bewusstseinsindustrie« zu einem gigantischen und enorm ausgefeilten Bereich von Soft-Power-Techniken entwickelt, deren wissenschaftliche Raffinesse den Bürger kaum bekannt ist, sondern erreichen auch Armut und Ausbeutung im Neoliberalismus einen neuen Höhepunkt. Warum scheint dies, den Wahlergebnissen nach, die Bevölkerung nicht sonderlich zu stören, die doch das neoliberale Programm einfach abwählen könnte?

Das ist eine der interessantesten Fragen zur Funktionsweise unserer westlichen Demokratien. Wie kann es zu einem solchen Ausmaß der Duldung und Zustimmung zu den bestehenden Verhältnissen kommen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung doch seit Jahrzehnten gerade zu den Leitragenden dieser Entwicklungen gehört? Denn natürlich stört es die Mehrheit der Bevölkerung, dass sie einen immer geringer werdenden Anteil an den von ihr erwirtschafteten Gewinnen bekommt. Sie spürt dies, auch wenn sie es oftmals nicht verstehend erfassen und begreifen kann, da die entsprechenden Fakten durch die Medien systematisch verschleiert oder interpretativ verzerrt und verrauscht werden.

Beispielsweise die exzessiv angewachsenen Ungleichheiten in der Verteilung der Vermögen und Einkommen und die Tatsache, dass immer breitere Bevölkerungsschichten verarmen und zugleich die Reichen mehr und mehr von Beiträgen zur Gemeinschaft »entlastet« werden. Beispielsweise, dass fast ein Viertel aller Beschäftigten inzwischen im Niedriglohnsektor arbeitet und dass es sich dabei nicht nur um Geringqualifizierte, sondern weit überwiegend um Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung handelt. Beispielsweise, dass die Realeinkommen der oberen zehn Prozent in der Verteilung der privaten Haushaltseinkommen in den vergangenen zwei Jahrzehnten um fast 27 Prozent gestiegen, während sie bei den untersten zehn Prozent preisbereinigt sogar gefallen sind. Beispielsweise, dass das Armutsrisiko älterer Menschen seit Jahren kontinuierlich steigt.

Die Medien tragen wesentlich dazu bei, dass derartige Fakten für die Betroffenen nicht mehr verstehbar sind und aus ihnen keine politischen Schlussfolgerungen gezogen werden können. Gleichwohl sind diese Fakten in der eigenen sozialen Existenz der Betroffenen spürbar. Da die Medien sie jedoch als Wirkungen undurchschaubarer und mit gesetzhafter Notwendigkeit operierender »Marktkräfte« darstellen, kann natürlich niemand für sie politische Verantwortung tragen. Individuelle Not hat dann keine strukturellen gesellschaftlichen Ursachen mehr, und niemand außer dem Individuum selbst ist für sie verantwortlich. »Marktkräfte« kann man nun einmal nicht abwählen, man kann sich ihnen nur anpassen und unterwerfen. Das gerade ist der wesentliche ideologische Trick der neoliberalen Indoktrination, durch den sich die neoliberale Revolution von oben mit ihrer radikalen Umverteilung von unten nach oben überhaupt erst vollziehen ließ.

Das wirkungsmächtigste Instrument dieser Revolution waren dabei zweifellos die Medien. Noch immer wird die Rolle, die sie dabei spielten und weiterhin spielen, gravierend unterschätzt. Die Medien haben – im Gleichklang mit der Mehrzahl der Intellektuellen – die ohnehin kärglichen Reste ihrer normativen Selbstideale immer mehr preisgegeben und sich schließlich geradezu leidenschaftlich in den Dienst ökonomischer Eliten gestellt. So wurden sie propagandistische Massenvernichtungswaffen zur systematischen Zerstörung sozialstaatlicher Errungenschaften und zugleich der Ideen von Gemeinschaft, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit.

Eine solche planmäßige Zerstörung des Sozialstaates wäre ohne eine planmäßige Vergiftung der Sprache und des Denkens nicht möglich gewesen.

Servile Intellektuelle, Journalisten und Professoren wetteifern mit Politikern darum, sich in den Dienst der totalitären Ideologie des »Marktes« zu stellen und ihr durch eine Eroberung des Denkraumes eine vermeintliche Rechtfertigungsgrundlage zu liefern.

Dazu konnten sie sich nahezu unbeschränkt der Medien bedienen und auf diese Weise eine Orwell’sche neoliberale Neubestimmung ursprünglich positiv besetzter Begriffe – wie »Freiheit«, »Reform«, »Bürokratieabbau«, »Flexibilität« und »Globalisierung« – in den Köpfen verankern. Das erforderliche neoliberale Indoktrinationsvokabular wurde und wird von Thinks-Tanks und Stiftungen wie der vermeintlich gemeinnützigen Bertelsmann-Stiftung sorgfältig entwickelt und kontinuierlich evaluiert und verfeinert.

Seit mehreren Jahrzehnten überziehen die Medien tagtäglich die Bevölkerung mit den Worthülsen des neoliberalen Jargons. Die Journalisten der Leitmedien wurden bereitwillig zu Meinungstechnikern des Neoliberalismus: Sie hinterfragen seine Begriffe nicht, sie beleuchten nicht seine Hintergründe oder seine Wurzeln und sie untersuchen nicht seine Konsequenzen und Auswirkungen. Da sie neoliberales Denken geradezu als unhinterfragbare Selbstverständlichkeit ansehen, übersetzen sie alle gesellschaftlichen Probleme in seine Kategorien und bieten für alle Fragen schablonenhaft vorgefertigte marktkonforme Antworten. Das kann natürlich nicht ohne Wirkung auf die Bevölkerung bleiben. Denn allein die Tatsache, dass Scharen neoliberaler Wortverkäufer in endlosen Wiederholungen die immergleichen Worthülsen von sich geben, verstärkt den Eindruck, dass ein so hohes Maß an Übereinstimmung nur als Zeichen der Wahrheit verstanden werden könne. Der Neoliberalismus ist eine Ideologie, die es über die Medien geschafft hat, den gesamten öffentlichen Denkraum zu dominieren und sich auf diese Weise gewissermaßen selbst »wahr« zu machen.

Da der Neoliberalismus somit im öffentlichen Bewusstsein gar nicht mehr als Ideologie erkennbar ist, erscheint auch die von ihm planmäßig erzeugte Armut und Prekarität lediglich als eine bedauernswerte, aber unvermeidliche Nebenwirkung einer Anpassung an die »Gesetzmäßigkeiten des Marktes«. Der Markt erzwinge nun einmal »Flexibilisierung«. Mit solchen begrifflichen Vergiftungen des Denkens ist für die Bevölkerung nicht mehr erkennbar, dass der Neoliberalismus gerade darauf angewiesen ist, soziale und ökonomische Unsicherheit zu einem Dauerzustand zu machen und das hervorzubringen, was Christoph Butterwegge die »Prekarisierung der Lohnarbeit« nennt. Durch die auf diese Weise erzeugten Abstiegsängste lässt sich dann zugleich auch die Mittelschicht disziplinieren.

Armut – nach welchen Kriterien auch immer – ist also nicht nur eine natürliche Folge der mehr als vier Jahrzehnte andauernden Umverteilung von unten nach oben. Armut ist zugleich ein von den Nutznießern dieser Umverteilung geradezu erwünschter Effekt. Denn sie verhindert Partizipation, erzeugt Lethargie und diszipliniert gerade diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die eigentlich das größte Interesse an einer Änderung haben sollten. Armut und Armutsängste sind der beste Garant der gewünschten politischen Lethargie der Bevölkerung: Wenn ein Fünftel der Gesellschaft keine politische Stimme hat, keine Organisationsform, keine mediale Repräsentanz, keine Lobbyisten für eine Vertretung ihrer Interessen und überdies in weiten Teilen hochgradig überwacht und diszipliniert ist, dann erhöht das natürlich die Stabilität des Status der herrschenden Eliten.

Das sich bis in die Mitte der Gesellschaft ausdehnende Ausmaß an ökonomischer Unsicherheit, Angst und Armut erzeugt zwangsläufig eine gesellschaftliche Spannungssituation. Der Neoliberalismus muss nun diese Spannungen neutralisieren, damit sie sich nicht als politisches Veränderungsbedürfnis artikulieren. Dabei erweist sich eine weitere mit ihm verbundene ideologische Komponente als hilfreich, nämlich sein Sozialdarwinismus. In seiner meritokratischen Haltung teilt der Neoliberalismus nämlich die sozialdarwinistische Verachtung der Schwachen. Eine solche zutiefst inhumane Ideologie erzeugt gerade bei den Schwachen Scham über ihre eigene Situation und eine verstärkte Neigung, sich mit den Erfolgreichen und Mächtigen zu identifizieren. Infolge einer solchen sozialdarwinistischen Ideologie verbünden sich perverserweise die Starken und die Schwachen in dem Wunsch, das Thema Armut – mit oftmals stillschweigender Billigung der Medienkonsumenten – aus den Medien herauszuhalten. Armut – wenn es nicht gerade Kinderarmut ist – wird damit etwas rein Privates, sie wird auf das Individuum projiziert, das selbst daran schuld sei.

Angesichts der zentralen Rolle der Medien im neoliberalen Klassenkampf von oben ist es also nicht überraschend, dass die Verlierer dieses Klassenkampfes in den Medien praktisch nicht vorkommen, es sei denn als bloße Statistiken. Diese Teile der Bevölkerung werden in mehrfacher Hinsicht nicht mehr repräsentiert – weder politisch von den Repräsentanten des Volkes noch medial. Sie sind ihres Sprachrohres beraubt und stellen lediglich noch möglichst effizient zu verwaltende Objekte des Mitleids und Almosenempfanges dar, keinesfalls jedoch eigenständige Subjekte der politischen Mitgestaltung von Gemeinschaft.

Im ersten Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung wurde daher zu Recht vor einer entsprechenden »Krise der Repräsentation« gewarnt: »Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.« Die politischen Repräsentanten halten es verständlicherweise nicht für opportun, diese eigentlich ganz offenkundige Tatsache deutlich auszusprechen. Daher wurde dieser Passus im Endbericht ebenso gestrichen wie der Hinweis der vom Bundesministerium für Arbeit beauftragten Forschergruppe, dass in Deutschland »eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen« bestehe. Die Studie dieser Forschergruppe hatte aufgezeigt, dass »politische Entscheidungen mit höherer Wahrscheinlichkeit mit den Einstellungen höherer Einkommensgruppen übereinstimmen, wohingegen für einkommensarme Gruppen entweder keine systematische Übereinstimmung festzustellen ist oder sogar ein negativer Zusammenhang«.

Kurz: Die relevanten politischen Entscheidungen werden überwiegend durch die Interessen der Reichen bestimmt, und die Anliegen sozial benachteiligter Gruppen finden politisch kein Gehör mehr. Eine solche »Krise der Repräsentation« lässt sich nicht einfach als eine mehr oder weniger zufällige Fehlentwicklung betrachten, die sich mit etwas gutem politischen Willen wieder korrigieren ließe. Denn sie ist tief in der Struktur der »repräsentativen Demokratie« angelegt, die historisch gerade mit der Intention hervorgebracht wurde, den Einfluss ökonomischer Eliten, also der besitzenden Klasse, vor den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zu schützen.

Da sich in den gegenwärtigen Formen repräsentativer Demokratien die Veränderungsenergie des Staatsvolkes in der Wahl anderer Repräsentanten aus einem vorgegebenen und hochgradig vorselektierten Spektrum erschöpft, kann auch durch Wahlen ein Veränderungswille der Mehrheit der Armen politisch nicht wirksam werden. Folglich ist auch das neoliberale Programm nicht einfach abwählbar.

Zugleich sind eben die genannten Punkte aber, wie mir scheint, auch eben jene, an denen die ideologische Matrix am brüchigsten ist. An denen das reale Erleben eines Einzelnen zu entstehen vermag, dass hier »etwas absolut und überhaupt nicht mehr stimmt«. Massenarmut und ein Hartz-IV-Zwangsregime, das bereits einen Großteil der Bevölkerung »beglücken« durfte, als nicht vorhanden, gerecht oder nur zur notwendigen Sanktionierung »der Millionen an Faulen« zu vermitteln – ist das nicht einer der vielen Punkte, an denen das System auch aufknackbar ist; eben überall dort, wo das reale Erleben den Lügen der Macht absolut entgegensteht?

Für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung steht das reale Erleben den offiziellen Wahrheiten der Mächtigen und der Medien seit Langem in so eklatanter Weise entgegen, dass sich – wie zuvor schon im Feudalismus – die Frage stellt, warum nicht die Mehrheit der Nichtbesitzenden die Minderheit der Vielbesitzenden zu einer gerechteren Umverteilung zwingt. Tatsächlich ist ja, wie vielfach aufgezeigt wurde, in den vergangenen Jahrzehnten eine gewaltige Re-Feudalisierung der Gesellschaft erfolgt, in deren Folge Reichtum ebenso wie Armut und Aufstiegschancen innerhalb abgegrenzter sozialer Gruppen nun gleichsam »vererbt« werden. Warum gibt es dennoch keinen angemessenen politischen Druck von unten, eine solche Entwicklung zu korrigieren?

Was von unten betrachtet als Lösungsweg erscheint, ist von oben betrachtet gerade eine existentielle Bedrohung des errungenen Status, die es zu neutralisieren gilt. Die besitzende Klasse ist sich also der Gefahren sehr bewusst, die gerade in einer Demokratie mit der rigorosen und skrupellosen Umverteilung und Erzeugung von Armut und Prekarität einhergehen. Denn hierdurch werden soziale Spannungsverhältnisse und Veränderungsbedürfnisse erzeugt, die auf Ablenkziele umzulenken oder gänzlich zu neutralisieren sind, damit sich die politische Veränderungsenergie nicht in radikaler oder gar gewalttätiger Weise gegen die vermeintlichen oder tatsächlichen Zentren der Macht entlädt. Damit also das System nicht an seinen eigenen Widersprüchen zerbricht, musste eine Vielzahl geeigneter Strategien der sozialen Befriedung entwickelt werden. Ziel dieser Bemühungen ist und war es seit je, Klassengegensätze zu verschleiern und eine stillschweigende Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung zu einer Politik zu erreichen, durch die Gemeinvermögen in großem Umfang einer kleinen Schicht ökonomischer Eliten zugeschanzt wird. Die komplexen Strategien, durch die dies historisch bewerkstelligt wurde, wurden bereits in einigen sorgfältigen Studien identifiziert, jüngst etwa von dem bedeutenden Sozialhistoriker Steve Fraser in seinem Buch The Age of Acquiescence, das sich mit den Entstehungsbedingungen unseres »Zeitalters der Duldung und Zustimmung« auseinandersetzt.

Diese Strategien setzen auf zwei Ebenen an: auf struktureller Ebene der politischen Organisation und auf ideologisch-psychologischer Ebene. Auf struktureller Ebene geht es vor allem darum, bei Aufrechterhaltung der Illusion von Demokratie demokratische Elemente auszuschalten und zu unterlaufen. Zwar hatte sich der Kapitalismus eine Zeit lang mit der repräsentativen Demokratie angefreundet, weil sie die politischen Wahloptionen auf Parteien zu beschränken vermag, die das Spektrum von Interessenunterschieden innerhalb der Eliten repräsentieren, und deswegen durch die Illusion einer demokratischen Kontrolle eine befriedende Wirkung entfaltete. Nun wird jedoch im Neoliberalismus, als einer Extremform des Kapitalismus, diese Mesalliance eigentlich unverträglicher Gesellschaftsvorstellungen mehr und mehr aufgebrochen, und die autoritären Züge und Vorlieben des Kapitalismus kommen wieder stärker zum Vorschein.

Die gegenwärtigen Formen repräsentativer Demokratie eignen sich besonders gut für eine unsichtbare Ausschaltung demokratischer Elemente, da sie mächtigen Lobbygruppen einen direkten Zugriff auf die politische Repräsentation erlauben. Dies hat eine Vielzahl von Mechanismen entstehen lassen, durch die sich in einer Art selbsterhaltender Rückkopplungsschleife ökonomische Macht in politische und diese wiederum in ökonomische Macht transformieren lässt. Der »Markt« mit seinen Akteuren und der Staat haben sich im Gefolge der neoliberalen Revolution mehr und mehr miteinander verschränkt; ökonomische und politische Macht stützen sich nun wechselseitig, wodurch zunehmend alle relevanten staatlichen Institutionen einer Kontrolle durch das Kapital und somit autokratischer Kontrolle unterworfen werden. Durch die immer enger werdende Verschmelzung von Wirtschaft und Politik, von mächtigen Lobbygruppen, Strukturen des Meinungs- und Demokratiemanagements – Think-Tanks, Netzwerke, Medien – und von zunehmend mächtiger und eigenständiger werdenden Apparaten eines Sicherheitsstaates sind die Zentren ökonomischer und politischer Macht mittlerweile so eng verschmolzen, dass sie für die Öffentlichkeit nicht mehr als demokratisch legitimierte Instanzen sichtbar sind und sich somit einer demokratischen Verantwortlichkeit entziehen.

Die politische Korruption ist also längst aus der Lobby des Parlaments in die Zentren der politischen Institutionen gewandert und bis in deren Wurzeln hinein systemisch geworden. Zu den strukturellen Elementen einer Verdeckung von Klassengegensätzen gehören auch all die dem Blick der Öffentlichkeit weitestgehend entzogenen Strategien nationaler und internationaler Gesetzgebung, wie zum Beispiel Steuergesetze oder Freihandelsabkommen, durch die sich, wie schon im Feudalismus, die organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse verrechtlichen lässt.

Auf ideologisch-psychologischer Ebene liegt das vorrangige Ziel des Neoliberalismus darin, eine radikal entpolitisierte und sozial atomisierte Gesellschaft zu erzeugen. Damit gar nicht erst die Idee eines gemeinsamen Interesses und damit Handlungsoptionen einer kollektiven Bündelung von Veränderungsbedürfnissen entstehen können, ist es erforderlich, dass das Individuum seine soziale Situation einzig seiner Anpassungskompetenz an die »Erfordernisse« des »Marktes« zuschreibt. Sofern überhaupt Vorstellungen einer kollektiven Identität entstehen, sollen sie sich auf Aspekte des Konsumbereichs und des Bereichs individueller »Life Styles« beziehen. Die so erreichte Entpolitisierung hat eine Reihe von machtpolitisch erwünschten Konsequenzen: Sie wirkt entsolidarisierend, entwurzelt das Individuum von der sozialen Erfahrungsgeschichte der eigenen sozialen Klasse und lässt es, hoffnungslos auf sich selbst gestellt, mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Resignation zurück.

Das auf diese Art sozial entwurzelte Individuum lässt sich in seinem Denken und Handeln ohne größeren Widerstand zum Objekt von geeigneten Techniken des Meinungsmanagements und der Disziplinierung und Überwachung machen, also genau zu der Art von politischem Objekt, das gerade in Demokratien der Traum der besitzenden Klasse ist.

Eine solchermaßen radikale Entpolitisierung der Gesellschaft bedarf einer flächendeckenden Unterstützung durch die Medien. Zudem kann sie langfristig nur stabilisiert werden, wenn sich auch alle Sozialisations- und Bildungsinstanzen in ihren Dienst stellen. Genau dies ist in den vergangenen Jahrzehnten geschehen:

Die Perfektion der neoliberalen Herrschaft über das gesamte Bildungssystem ist in nahezu totalitärer Weise organisiert worden, und es gibt mittlerweile praktisch keine Konzeption von Bildung als emanzipatorischem Unterfangen mehr.

Eine der folgenschwersten Konsequenzen der systematisch betriebenen radikalen Entpolitisierung der Gesellschaft ist die Fragmentierung und Zersetzung emanzipatorischer und sozialer Bewegungen und der politischen Linken allgemein. Das bezieht sich nicht nur auf die neoliberale Unterwerfung der in Parteien organisierten politischen Linken, deren Vertreter, wie die Agenda 2010 zeigt, das neoliberale Programm am konsequentesten vorangetrieben haben. Es bezieht sich auch auf den überwiegenden Teil des emanzipatorischen Potentials der Gesellschaft, das im Prozess dieser Entpolitisierung gleichsam privatisiert wurde. In dem Maße, wie sich sozialer Protest auf Identitäts- und Anerkennungsinteressen partikularer Gruppen beschränkte, wandelte sich das vormals kritische Potential zu dem, was Nancy Fraser »progressiven Neoliberalismus« nennt. So trugen, bewusst oder duldend, gerade kritische und linke Gruppierungen, auf die sich früher die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Veränderung gründete, zur Stabilisierung neoliberaler Gesellschaft bei. Das ehemals linke und sich heute zumindest noch progressiv fühlende Milieu kämpft nicht mehr gegen Ungleichheit, sondern gegen eine Diskriminierung seiner eigenen Partikulargruppen und hat sich ansonsten recht behaglich im Status quo eingerichtet.

Im Gefolge der neoliberalen Entpolitisierung der Gesellschaft verschwand auch weitgehend die Figur des politisch aktiven öffentlichen Intellektuellen, der die politische Situation kritisch und mit emanzipatorischem Engagement öffentlich reflektiert. So haben postmoderne Intellektuelle ebenso wie linke Salonintellektuelle mit der ihnen eigenen politischen Abstinenz die Verlierer der herrschenden Ordnung verraten und damit einer Vereinnahmung durch rechtsnationalistische und rechtspopulistische Bewegungen überlassen. Die im Neoliberalismus noch verbliebenen linken Intellektuellen verzichten überwiegend darauf, die Interessen der gesellschaftlichen Verlierer zu vertreten. Linke Salonintellektuelle und postmoderne Intellektuelle teilen zudem mit den Machteliten die intellektuelle Verachtung des Volkes, das ohnehin nicht in der Lage sei, ihre gesellschaftlichen Analysen zu verstehen und die Tiefe ihrer Gedanken zu ermessen.

So ist, wie insbesondere Noam Chomsky und Pierre Bourdieu beklagen, der Typ des emanzipatorisch aktiven Intellektuellen inzwischen weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden. Damit fehlen gerade diejenigen, die bereit und in der Lage sind, dem neoliberalen Totalitarismus Gegenentwürfe gegenüberzustellen, durch die sich dem Veränderungsbedürfnis wieder ein emanzipatorisches Ziel für politisches Handeln geben ließe, und die in Erinnerung rufen, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Der Neoliberalismus war also ausgesprochen erfolgreich in seinem Bemühen, emanzipatorisches Potential zu ersetzen und den gesellschaftlichen Vermittlungsprozess, durch den sich erst das Substrat linker Gesellschaftskritik und historisch gewonnener Einsichten sozialer Bewegungen politisch wirksam machen lässt, zu blockieren.

Welche Folgen hat all das für den Kampf um wirkliche Demokratie, eine menschlichere und sozialere Welt? Und was wären die in Ihren Augen aktuell wichtigsten und sinnvollsten Aktionen im Kampf um wahrhaftige Medien und wirkliche Demokratie? Welche Schritte könnten, sollten, müssen vom Einzelnen oder von vielen beschritten werden – die auch sinnvoll, weil zielführend sind?

Jede Form des politischen Handelns muss natürlich von angemessenen Einsichten in die relevanten Eigenschaften des politischen Systems, um das es geht, geleitet sein. In komplexen gesellschaftlichen Situationen kann Handeln nicht einfach Selbstzweck sein. Vor dem Handeln hat stets eine auf entsprechenden Einsichten basierende Handlungsplanung zu stehen. Eine aussichtsreiche Handlungsplanung darf sich zudem nicht auf Oberflächenphänomene beschränken, sondern muss im ökonomischen wie im ideologischen Bereich auf die Wurzeln verantwortlicher Machtbeziehungen zielen. Kaum einer hat diese strategischen Aspekte besser verstanden als der Vordenker des Neoliberalismus Friedrich August von Hayek; in dieser Hinsicht können emanzipatorische Bewegungen viel aus den Strategien lernen, auf denen der Erfolg des Neoliberalismus basiert.

Der Neoliberalismus konnte nur in dem Maße erfolgreich werden, wie es ihm gelang, die Gesellschaft zu entpolitisieren. Daraus ergibt sich umgekehrt, dass der Kampf gegen den Neoliberalismus nur in dem Maße erfolgreich sein kann, wie es gelingt, eine umfassende Re-Politisierung auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erreichen. Dafür kann es keine einfachen Rezepte geben. Alle können in den Bereichen, in denen sie gesellschaftlich wirken, etwas zu einer solchen Re-Politisierung beitragen und so ihr politisches Handeln an die spezifischen Möglichkeiten der jeweiligen Situation anpassen.

Dennoch lassen sich über eine solche Situationsspezifität hinaus auch allgemeinere Anregungen für wirksame Strategien und Taktiken gewinnen, nämlich aus der Geschichte sozialer Bewegungen und aus dem in gesellschaftlichen Kämpfen bereits erworbenen Werkzeugkasten des sozialen Widerstandes – Instrumente, die es dann anzupassen und weiter zu verfeinern gilt. Dazu müssen wir natürlich erst einmal die soziale Fragmentierung und die ideengeschichtliche Entwurzlung überwinden, um all das zuvor bereits Gewonnene wieder fruchtbar machen zu können. Dies wiederum ist nur arbeitsteilig möglich und bedarf der Unterstützung intellektueller Vermittler, die politisches Handeln wieder in die historische Perspektive sozialer Kämpfe und in die ideengeschichtliche Kontinuität emanzipatorischen Denkens einbetten.

Ein bewährtes mächtiges Werkzeug besteht etwa darin, kontinuierlich die inneren Widersprüche der bestehenden Verhältnisse aufzeigen, um daraus Möglichkeiten konkreter politischer Arbeit zu entwickeln.

Ebenso kontinuierlich und flexibel müssen situationsgerecht Techniken und Strategien entwickelt werden, durch die sich jede Art von illegitimer Macht identifizieren, begrenzen und im besten Fall gleich beseitigen lässt.

Es geht also darum, einen Prozess in Gang zu setzen, und nicht darum, ein starr vorgegebenes Ziel zu erreichen. Denn wirkliche Demokratie ist nicht einfach eine gleichsam statische Norm, für deren Erreichung man nur einen Transformationsprozess ausfindig machen muss, durch den man von den bestehenden Verhältnissen zu einem vorgegebenen Zielpunkt gelangen könnte. Demokratie ist vielmehr ein kontinuierlicher Prozess der Bändigung und Einhegung von Macht durch die ebenso kontinuierliche Schaffung von Organisationsformen, in denen Menschen ohne Macht – also die Mehrheit der Bevölkerung – zueinanderfinden und ihre Interessen in den öffentlichen Raum einbringen können.

Bei diesen Bemühungen um eine kontinuierliche Herstellung demokratischer Organisationsformen und damit einer menschenwürdigeren Gesellschaft kann uns die Einsicht helfen, dass die gegenwärtige soziale Realität durch menschliche Entscheidungen herbeigeführt wurde und nicht, wie uns die neoliberale Indoktrination glauben machen will, durch irgendwelche naturgesetzlichen Entwicklungen entstanden ist. Folglich können diese systematisch herbeigeführten Zustände auch wieder durch menschliche Entscheidungen rückgängig gemacht und beseitigt werden. Das ist jedoch durch die mittlerweile extreme Verschmelzung und rechtliche Stabilisierung unterschiedlicher Machtstrukturen eine sehr schwierige und nur längerfristig zu bewältigende Aufgabe, zumal es angesichts des totalitären Charakters des Neoliberalismus besonders mühsam sein wird, überhaupt wieder einen gedanklichen Spielraum für Alternativen zu gewinnen.

Noch ein letztes Wort?

Ja, ein grundsätzlicher Punkt ist mir noch wichtig. Die Rolle und Funktionsweise der Medien lässt sich – wie schon John Dewey betont und insbesondere Noam Chomsky sorgfältig aufgezeigt hat – nicht verstehen, wenn man dieses Thema auf Fragen spezifischer Missstände und ihrer Behebung beschränkt und somit isoliert von Fragen gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsbeziehungen behandelt. Das gilt in besonderem Maße für Demokratien.

Medien sind ein unverzichtbares Instrument bei der Herstellung von Gemeinschaft. Da sie unser Bild von der politischen Realität erst schaffen, hängt die Errichtung einer menschenwürdigeren Gesellschaft wesentlich davon ab, inwieweit es uns gelingt, einen Bedingungsrahmen für Medien zu schaffen, durch den alle gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit haben, sich gleichberechtigt in den öffentlichen Diskussionsraum einzubringen.

In der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung sind Medien so tief in Machtbeziehungen eingebunden, dass sie als Instrumente zur Durchsetzung der Interessen der ökonomischen Eliten dienen. Daher wird ihre Funktionsweise überwiegend durch Faktoren bestimmt, die außerhalb des öffentlichen Diskussionsraumes liegen und die für die Öffentlichkeit nahezu unsichtbar sind. Wenn wir also eine wirkliche Demokratie schaffen wollen, müssen wir das gesamte Medienwesen – vor allem hinsichtlich seiner ökonomischen Struktur und seiner symbiotischen Vernetzung mit den ökonomischen und politischen Zentren der Macht – radikal reformieren, um eine umfassende demokratische Kontrolle der Medien zu erreichen. Da sich naturgemäß die Zentren der Macht der Entwicklung einer wirklichen Demokratie widersetzen, wird sich dies nicht ohne radikale demokratische Reformen der Gesellschaft insgesamt erreichen lassen.


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Rainer Mausfeld, geboren 1949, studierte Psychologie, Mathematik und Philosophie in Bonn. Er ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet im Bereich der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung.

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Online-Erstveröffentlichung im Magazin Rubikon: „Massenmediale Ideologieproduktion„. Das Interview ist ein Auszug aus dem Anfang September 2017 erschienenen Buch „Lügen die Medien?“, Westend-Verlag.

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Ein Kommentar

  1. Ein gutes und wichtiges Interview. Allerdings werden viele Fakten und Schlussfolgerungen durch die professorale Redundanz von Mausfeld verwässert, so z. B. bei der Frage, warum die Bevölkerung „das neoliberale Programm nicht einfach abwählt“. Man kann keine Programme wählen oder abwählen, sondern nur Parteien und Personen. Aber: Programme, Märkte usw. werden immer von Menschen gemacht. Auch „die“ Banken oder „die“ Medien sind nicht abstrakt, dahinter stecken immer konkrete Menschen. Es geht also darum, dass wir uns mit den Menschen auseinandersetzen, die den Neoliberalismus zugunsten der GuS (Gierigen und Skrupellosen) fördern.
    Das Interview hätte weitaus mehr Durchschlagskraft, wenn sich die Antworten auf das Wesentliche konzentriert hätten und kürzer wären.

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