Statt die Todesursache von Verstorbenen in ihrem Körperinneren zu suchen, behilft sich die Medizin oft mit Pseudodiagnosen.
von Gerd Reuther
Eigentlich lernen die Lebenden seit einigen Jahrhunderten von den Toten. So steht es jedenfalls noch an den Wänden medizinischer Universitätsinstitute: „Mortui vivos docent.“ Aber welche Lehren ziehen wir denn aus der Übersterblichkeit von mittlerweile 20 Prozent und der Epidemie plötzlicher und unerwarteter Todesfälle? Ist das Schweigen um die Toten nicht beredt genug? Der Lerneifer bezüglich der Botschaften der Toten war bei den Medizinern immer auf einen kleinen Personenkreis beschränkt. Lange hatte man kein Problem damit, dass Obduktionen untersagt waren. Und als schließlich ab dem 16. Jahrhundert das Tabu bröckelte, wollten es nur wenige Ärzte wirklich genau wissen. Und diese sezierten in Italien und später in Paris. Noch bis ins 20. Jahrhundert schnitten Behandler ihre toten Patienten meist selbst auf — blind für mögliche Behandlungsschäden, ohne Wissen über die Krankheitszusammenhänge und oft auch ohne Erfahrung mit dem menschlichen Innenleben. Die ausgeweidete Leiche machte Ärzte selten klüger als die sterbliche Hülle. Heute wären die Obduktionstechniken ausgefeilter. Dennoch ist diese Form der Wahrheitssuche seltener geworden — vielleicht auch, weil man die Wahrheit fürchtet.
Noch heute behilft sich die Medizin gerne mit unzutreffenden Todesdiagnosen, die gerade en vogue sind: „COVID-19“ oder nichtssagenden Pseudoerklärungen wie „Herzversagen“ oder „Organversagen“. Lediglich etwa 1 Prozent aller Verstorbenen und selbst in Kliniken kaum mehr als 3 Prozent werden obduziert (1, 2).
Im Vertuschungskartell von Ärzten und Angehörigen sind Obduktionen bereits wieder vom Aussterben bedroht. Leichenöffnungen zur Klärung der Ursache des Todes waren und sind die Ausnahme.
Aber selbst dann wecken noch nie beobachtete Blutgerinnsel bei ärztlichen Todesforschern keine kriminalistischen Instinkte. Wer nicht die richtigen Fragen stellt, Krankheitssymptome und Vorgeschichte berücksichtigt sowie gezielte Analysen durchführt, findet im Inneren des Toten genauso wenig eine Ursache wie Ermittler das Tatmotiv bei einer Hausdurchsuchung. Man muss schon wissen, welche Medikamente verordnet wurden, welche Krankheitszeichen bestanden, um dann gezielt Gewebe unter dem Mikroskop zu untersuchen und Substanzen im Labor aufzuspüren. Ohne eine ergebnisoffene Ermittlung in alle Richtungen bleiben auch offensichtliche Tatsachen unbemerkt.
Im Jahr 1863 beklagte der Pathologe Rudolf Virchow die „große Nachlässigkeit, mit welcher auf den Totenscheinen die Krankheiten von den Ärzten angegeben werden“. Auch heute werden von der Mehrzahl der Ärzte die Verstorbenen gar nicht entkleidet (3). Es war allerdings nie nur Nachlässigkeit, sondern immer wieder auch Vorsatz. Bei Giftmorden wurde gerne eine Erkältung oder bei einer epidemischen Häufung von Brechdurchfällen Cholera oder Typhus attestiert, um Ermittlungen zu vermeiden. Behandlungsopfer des eigenen Tuns hatten immer den Arzt zu spät gerufen oder waren den gerade grassierenden Fieberkrankheiten erlegen.
Von diesem medizinischen Bankrott blieben auch die Geistesgrößen der letzten Jahrhunderte nicht verschont, obwohl man ein gesteigertes Interesse an ihrem Überleben und im Falle eines vorzeitigen Todes an der Ursache ihres Ablebens zu haben schien. Detaillierte Augenzeugenberichte über die letzte Krankheitsphase und häufiger auch Obduktionen als unter der übrigen Bevölkerung verhinderten nicht, dass kaum eine Diagnose zutraf (4). Die beiden Ärzte, die Friedrich Schiller obduzierten, behaupteten in ihrem Bericht sogar, dass sie im Herzbeutel gar kein Herz vorgefunden hätten! Vermutlich stellten sie gleichzeitig auch Schillers Schädel gegen Entgelt sicher, blieben aber eine plausible Todesursache schuldig.
Überraschend definitive Diagnosen aus früheren Jahrhunderten sollten immer Verdacht erregen, dass etwas vertuscht werden soll. Wodurch hätten denn vor der Entdeckung von Mikroorganismen Ärzte sicher sein können, ob tatsächlich eine Tuberkulose, Syphilis oder Cholera vorlag? In den Biografien der Weltgeschichte verstecken sich nicht wenige Cold Cases. Der Augenschein eines Rechtsmediziners erfolgt nur vor Feuerbestattungen und bei Verdacht auf einen gewaltsamen Tod.
Wer mit dem nötigen Abstand zum heutigen Geschehen verstehen will, was Totenscheine verschweigen, kann sich dies anhand von 15 Sterbegeschichten berühmter Personen vor Augen führen (5). Erst, wenn Symptome plausibel zu den Vorgängen und umgekehrt passen, darf man annehmen einer wirklichen Kausalität auf die Spur gekommen zu sein.
So mancher scheinbar überraschende und willkürliche Tod bekommt dann eine innere Logik; denn die Ursache für eines Menschen Tod ist fast immer sein Leben.
Ob Beethoven, Schumann oder wir heutigen — ein scheinbares Todesrätsel kann und sollte gelöst werden.
Mindestens jeder Dritte stirbt schon immer und bis heute an den Folgen seiner Behandlung. Früher waren es die entwässernden Rosskuren, giftige Metalle und Opiate; heute sind es die nicht minder toxische pharmazeutische Chemie und unsinnige Operationen. Dies kann und wird sich auch nicht ändern, wenn Ärzte die Botschaften der Toten nicht erkennen wollen. Bakterien, Viren und genetische Fehler sind keine hinreichenden Erklärungen für ein Ableben. Labortests alleine genügen nicht. Wir brauchen schon die Toten und ihr vorhergehendes Leben, um zu verstehen.
Gerd Reuther „Letzte Tage — Verkannte und vertuschte Todesursachen berühmter Personen“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Deutsche Gesellschaft für Pathologie; http://www.pathologie-dgp.de/media/Dgp/downloads/Rubrik_Downloads/Indikationsliste_Obduktionen_230414.pdf; letzter Zugriff am 11.06.2017
(2) Jütte R, Dietel M, Rothschild MA: Autopsie: Lässt sich der Trend sinkender Sektionsraten umkehren? Dtsch Arztebl 2016; 113(46): B-1743-6
(3) Madea B: Ärztliche Leichenschau und Todesbescheinigung: Kompetente Durchführung trotz unterschiedlicher Gesetzgebung der Länder. Dtsch Arztebl 2003; 100(48): A-3161-79
(4) Reuther G: Letzte Tage — verkannte und vertuschte Todesursachen berühmter Personen. Engelsdorfer; Leipzig 2022
(5) Ebenda
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