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Die Begabungs-Ideologie

Um soziale Unterschiede zu rechtfertigen, werden Kinder als „begabt“ und „unbegabt“, „intelligent“ und „unintelligent“ klassifiziert. Exklusivabdruck aus „Erziehung im Kapitalismus“.

Man kann als moderner Pädagoge bezweifeln, dass Begabung im „Wesentlichen vererbt“ ist. Aber dass es so etwas wie Begabung, eine Fähigkeit zu speziellen Leistungen gibt, steht für Pädagogen außer Zweifel. Wäre denn anders die „Genialität“ eines Mozart oder Einstein überhaupt denkbar?

Begabung

Und was erfährt man nun über Begabung? Warum konnte Goethe dichten?

„Begabung, die ‚Leistungsanlagen‘ (Leistungsdispositionen), die im wesentlichen vererbt werden. Die Begabung ist die Voraussetzung späterer Fähigkeiten auf den verschiedensten Gebieten, z.B. des geistigen, künstlerischen, praktisch-technischen oder sportlichen Lebens (…) Die geistige Begabung nennt man auch Intelligenz“(Hehlmann, 42).

„Der Begriff Begabung wird zwar manchmal in ähnlich weitem Sinne (gemeint ist: wie der Intelligenzbegriff) gebraucht, häufiger aber wird er auf bestimmte Fähigkeiten bezogen. Man ist ein begabter Musiker, Redner oder Sportler, intelligent braucht man deswegen noch nicht zu sein. Ein Kind kann begabt sein für ein Instrument, für Gymnastik oder zum Schauspielen, dass es intelligent für einzelne Tätigkeiten sei, sagt man nie“ (Funk-Kolleg EW 3, 62f.).

Goethe war ein großer Literat, weil künstlerisch begabt, Mozart hatte eine musikalische und Einstein eine naturwissenschaftliche Begabung. Mit „Begabung“ sollen also spezielle Leistungen erklärt werden. Die zugrundeliegende Begabung wird aber gar nicht anders definiert als durch ihre Wirkung, solche Leistungen hervorzubringen. Mit diesem tautologischen Verfahren wird jeder Leistung ein Vermögen gleichen Inhalts zugeordnet. Dies allerdings nicht so, dass jeder bestimmte gewusste Inhalt auf eine Begabung zu diesem zurückgeführt würde.

Jemandem, der die Zahl 5 behalten hat, ein „Vermögen zum Behalten der Zahl 5“ (Mühle, 70) zu attestieren — diese Konkretion halten selbst Pädagogen für tautologisch. Aber nur, um denselben Unfug abstrakt zu wiederholen: An jeder bestimmten mathematischen Kenntnis wird zwar abstrakt festgehalten, dass es sich um eine mathematische Leistung handelt, doch nur um gleich ein »Vermögen zum Erbringen mathematischer Leistungen« hinterherzuschieben.

Damit wollen Pädagogen nicht behauptet haben, dass alle sprachlichen, musikalischen und sonstigen Kenntnisse und Fertigkeiten schon vor ihrem Erwerb im Individuum stecken. So sehr die Begabung alles das begründen soll, so sehr soll sie immer zugleich nur eine Möglichkeit darstellen: Zur Aneignung naturwissenschaftlicher Kenntnisse soll etwa ein Einstein besonders geeignet gewesen sein. Begabung soll eine Fähigkeit zum Erwerb spezieller Kenntnisse und Fertigkeiten sein.

Dieser Rückschluss von einer (geistigen) Leistung auf eine im Individuum vorhandene Potenz dazu ist nichts als ein Rückfall — wie Brezinka in dankenswerter Klarheit demonstriert:

„Nach der Regel, daß man von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit, vom Akt auf die Potenz schließen darf, wird hier gefolgert: Wer lernt, der kann auch lernen (d.h. er ist fähig zu lernen)“ (Brezinka, 178).

Wenn jemand die Rechenoperationen beherrscht, dann ist nämlich darin längst eingeschlossen, dass ihm der Erwerb dieses Wissens möglich war. Er hat die Möglichkeit ja längst verwirklicht. Sinnlos ist diese theoretische Übung für Pädagogen dennoch nicht. Sie ziehen diesen „Schluss“ nur, um die Möglichkeit einer Leistung als selbständiges Ding neben die Leistung zu stellen und als verursachende Kraft ins Spiel zu bringen: Das mathematische Können eines Individuums liegt vor, weil es zu ihm fähig ist. Es konnte können, was es kann.

Plausibel finden soll man diesen Gedanken, weil angeblich ohne dieses selbständige Vermögen zum Erwerb einer Leistung die Leistung ausbleibt. Dazu deuten Pädagogen gern auf einen 1.50 m großen Mann, der zum Hochspringer einfach das Zeug nicht hat, weil ihm die körperliche Voraussetzung dazu fehlt. Das soll dann die Umkehrung plausibel machen, dass Weltmeister im Hochsprung wegen ihrer Begabung zum Hochsprung zustande kommen?

Wer beherrscht denn schon den Hochsprung, weil er groß ist? Ganz abgesehen davon, dass diese Logik ja Anwendung finden soll auf Leistungen, bei denen kein Pädagoge eine spezielle körperliche Voraussetzung überhaupt anzugeben wüsste. Dass die Gehirngröße eines Einstein ihn zu naturwissenschaftlichen Höchstleistungen prädestiniert hat, wollen ja nicht einmal Pädagogen behaupten.

Diese pädagogische Dialektik, derzufolge Begabung einerseits Ursache jedes Könnens, andererseits bloße Bedingung für seinen Erwerb sein soll, ist notwendig. Denn einerseits soll die Begabung nicht so verantwortlich zeichnen, dass Lernen überflüssig ist. Andererseits soll sie eine bloße Bedingung auch wieder nicht sein. Denn dann käme ja glatt die Wahrheit heraus: Was einer weiß und kann, steht und fällt mit dem Gebrauch, den er von seinem Vermögen macht. Dass der Mensch was lernen muss, soll den Begabungsgedanken nicht ersetzen, weil Pädagogen die Begabung als Schranke des Lernens im Visier haben.

Grenzen der Begabung

Die pädagogische Übung, jedes besondere Wissen und Können als Ausdruck einer besonderen Begabtheit zu interpretieren, ist nämlich für die Umkehrung dieses Satzes erfunden: Wenn Begabung das dem Individuum Mögliche festlegt, dann legt sie auch das ihm Unmögliche fest. Wenn vorhandenes Können ein Vermögen dazu indiziert, dann wirft Unkenntnis ein schlechtes Licht auf den Zustand der Begabung. Manch ein Kind ist eben einfach sprachlich oder mathematisch unbegabt. Die Frage, woran ein Individuum scheitert, welchen Gedanken es beispielsweise nicht begriffen hat, wird hier ersetzt durch den Fingerzeig darauf, dass Unkenntnis vorliegt.

Denn man will darauf hinaus, dass es dann wohl auch um die Fähigkeit zum Erwerb dieser Kenntnis schlecht bestellt sein muss. Was rationellerweise auf Bildungsbedarf hindeutet, wird so zum Beweis der Unmöglichkeit und Überflüssigkeit dieser Anstrengung. Denn es liegt ein Mangel an Bildsamkeit vor.

Die Quantitätstheorie der Begabung

Diesen Rückschluss auf fehlende Begabung etwa zur Mathematik blamieren Pädagogen selbst. Denn nach ihrer eigenen Auskunft kann einer, der an der Integralrechnung scheitert, die Multiplikation durchaus beherrschen. Allgemeiner gesagt: Es gibt die Kinder nicht, die auf irgendeinem Gebiet schlechthin gar nichts oder alles können. Wendet man das pädagogische Schlussverfahren an, dann offenbaren die Individuen daher immer zwei völlig widersprechende Befindlichkeiten ihrer Begabung: Das Beherrschen der Multiplikation soll vorhandene mathematische Begabung anzeigen. Das Scheitern an der Integralrechnung soll fehlende mathematische Begabung indizieren. Pädagogen ist das allerdings kein Problem, weil sie diesen Widerspruch für sich längst gelöst haben:

„Die Begabung ist individuell sehr unterschiedlich, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Höhe als auch ihrer speziellen Richtung, die in enger Beziehung zum Persönlichkeitsganzen steht“ (Hehlmann, 42).

Jeder Begabung soll es also eigen sein, in mehr oder weniger begrenzter Menge vorzuliegen: Je nach ihrer Größe erlaubt eine vorhandene mathematische Begabung bestimmte Lernfortschritte oder verhindert sie. Beherrscht, so besehen, jemand eine mathematische Operation, eine andere dagegen nicht, dann war die Begabung eben zu klein, um beides zu erfassen. Sie wird gedacht als eine Substanz, von der solange gezehrt werden kann, bis sie aufgebraucht ist. Ist dies der Fall, dann ist das Vermögen zur Mathematik eben ausgeschöpft.

Die verschiedenen Gedankeninhalte — von der Addition über die Multiplikation bis zur Differenzierung — erscheinen so als eine Äußerung mengenmäßiger Anteile desselben Vermögens. Und die Größe der Potenz legt fest, wie viele Gedanken erfassbar sind. Nimmt man diesen Gedanken ernst, dann würde Wissenszugewinn die Lernmöglichkeiten eines Kindes beschränken, weil Aufbrauchen der begrenzten Potenz stattfindet.

Keinem Individuum braucht die Pädagogik so irgendeine Begabung grundsätzlich abzusprechen. Jeder ist nur mehr oder weniger begabt. Aber auf dieser Grundlage sollen sich lauter Begabungsunterschiede auftun.

Die Individuen sortieren sich nämlich jetzt in jedem einzelnen Begabungsbereich nach der absoluten Größe der speziellen Begabtheit. Und sie sortieren sich nach dem relativen Gewicht, das die einzelnen Begabtheiten in ihrem gesamten Begabungsset haben. Die einen sind besonders mathematisch begabt, aber im Spracherlernen unterbelichtet. Die anderen taugen zum Denken insgesamt nicht recht, sind dafür auf praktische Fertigkeiten abonniert etc.

Begabung — ein Wechselwirkungsgeflecht

Den Gedanken, dass die Menge der jeweils vorhandenen Begabung dem Lernvermögen Grenzen setzt, ergänzen moderne Pädagogen um seine Umkehrung: Lernen verbraucht nicht nur eine begrenzte Potenz, Lernen schafft auch immer neue Potenzen:

„Begabung ist prozessual aufzufassen. Man wird begabt, nicht: man ist begabt“ (Maier, 45).

Und das darf man sich so vorstellen:

„Vielmehr sollte man sich das Nervensystem als Informationsverarbeitungssystem vorstellen, das zwar bestimmte maximale Kapazitäten haben mag, dessen Leistung aber — bildlich gesprochen — nicht so sehr von dieser Kapazität als vielmehr von den Programmen abhängt, die ihm eingegeben worden sind. Damit sind die Ergebnisse von Erfahrung und Lernen gemeint: Sie determinieren vor allem die Leistungsfähigkeit des Organismus (…) Die Art seiner Nutzung bestimmt die Leistungshöhe (…) Bei einem gegebenen Reifegrad und einer gegebenen Begabung sind völlig verschiedene Leistungen möglich, je nach den vorangegangenen Lernprozessen“(Aebli, 182f.).

Nun ist eines ja nicht von der Hand zu weisen: Wer sich in Mathematik bereits hinlänglich auskennt, bringt damit auch Voraussetzungen für die Lösung neuer mathematischer Probleme mit. Wer das Multiplizieren lernen soll, muss das Zählen bereits begriffen haben. Diesen Gedanken ernst genommen, kürzt sich allerdings das Begabungsargument ganz heraus. Es stünde nur die Frage an, welche sachlich begründete Voraussetzung bei einem Kind gegeben sein muss, wenn es einen Gegenstand begreifen soll. Nicht so bei Pädagogen. Sie deuten auf die oben genannten Phänomene, um etwas ganz anderes plausibel zu machen: Das bereits Gelernte soll die Begabungsgrenze nicht nur enger ziehen, sondern zugleich ausweiten.

Einmal kommt Lernen nämlich vor als Kapazitätsverbraucher, ein anderes Mal als Produzent erweiterter Kapazitäten. Pädagogen wollen eben beides behaupten: Die Begabung setzt dem Lernen Schranken, aber wie die Schranken aussehen, das hängt vom Lernen ab. Dass diese beiden Aussagen sich wechselseitig aufheben, braucht Pädagogen nicht zu irritieren. Sie sind schließlich auf der Suche nach einem Begabungsbegriff, der die wichtige Rolle der „erzieherischen Einwirkung“ hervorhebt, ohne in Abrede zu stellen, dass diese Einwirkung immer auch im Kind ihre Schranke hat. (Siehe dazu die Gen-Umwelt-Debatte.)

Also wissen Pädagogen, dass man nie wissen kann, wann die Begabung voll ausgeschöpft wurde. Vielleicht hätte sich durch Lernprozesse die Begabungsschranke ja weiter hinausschieben lassen? Eines aber wissen sie ganz sicher: Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo Lernen nicht mehr hilft:

„Übersetzt in die Alltagssprache heißt dies, dass wir durch alle bisherigen erzieherischen Maßnahmen die Grenzen der Spielräume für die Entwicklung intelligenten Verhaltens noch nicht erreicht haben. Diese differenzierte Aussage darf aber nun nicht illusionistisch in der Weise umgedeutet werden — (…)—, dass durch gezielte Einwirkungen, dass durch gezielte Maßnahmen alles erreichbar sei, dass jede Fähigkeit jedem Menschen anerzogen werden könne“ (Funk-Kolleg EW 3, 79).

Mit ihrer Wechselwirkungs-Konstruktion hat es die Pädagogik für theoretisch unmöglich erklärt, anzugeben, wann die Lernmöglichkeiten eines Kindes ausgeschöpft sind und wann sie der Förderung bedürfen. Denn jedes bestimmte Lernresultat lässt sich einerseits als Hinweis darauf deuten, dass die Grenze der Begabung erreicht ist. Es lässt sich aber genauso gut als Auftrag an die Erziehung deuten, durch Lernprozesse neue Lernmöglichkeiten zu erschließen.

Von der begrenzten Leistungsfähigkeit der Begabungsideologie

Mit der Konstruktion einer Palette von speziellen Begabungen, die einerseits allen Individuen eigen sind, die ihnen aber andererseits in sehr verschiedenem Maße anhaften, hat die Pädagogik es geschafft, den schulischen Fächerkanon und die unterschiedlichen Erfolge der Einzelnen in den jeweiligen Fachgebieten auf eine menschliche Ausstattung zurückzuführen: Dass die Schule alle Kinder gleichermaßen mit Mathe bis Musik beackert, entspricht dem Schülermaterial. Denn keiner ist auf irgendeinem Fachgebiet gänzlich unbegabt. Dass die einen in Mathe gut abschneiden, die anderen in Musik, auch dies entspricht nur einer — jetzt unterschiedlich gedachten — Ausstattung der lieben Kleinen in den speziellen Begabungsabteilungen.

Damit hat die Pädagogische Psychologie schulische Unterschiede der Kinder zum Indikator individueller Unterschiede erklärt — aber noch nicht die Schulhierarchie begründet. Denn wie sollte sich aus der unterschiedlichen Ausrichtung der Begabung nach mathematisch und musikalisch, nach praktisch und theoretisch eine Bewertung der Kleinen ergeben, derzufolge die einen weitere Bildung verdient haben, während andere als gescheitert betrachtet werden dürfen? Unterschiedliche Talente rechtfertigen gar keine Wertigkeitstabelle mit guten und schlechten Listenplätzen. Aber das war pädagogisch bezweckt: Die Hierarchie in Bildung und Beruf sollte auf eine innere Hierarchie des Nachwuchses zurückgeführt werden.

Genau deshalb gibt es das pädagogische Bemühen, die sachlich verschiedenen Begabungen auf eine allgemeine Begabtheit zurückzuführen, die dann nur noch quantitative Unterschiede der Individuen in derselben Sache zulässt, sodass sie tatsächlich in eine Begabungs-Rangordnung passen. Dieses Bedürfnis kündigt sich an, wenn Pädagogen nicht mehr von speziellen Begabungen sprechen, sondern eine allgemeine Scheidung der Menschen in „Minder-“ und „Hochbegabte“ anstrengen. Bedient wird dieses Interesse durch den Intelligenzbegriff der Psychologie.

Intelligenz

„Intelligenz“ fasst die Begabung eines Menschen ganz abstrakt gegen jeden speziellen Gehalt als Fähigkeit zum Erwerb jeder möglichen geistigen Leistung. Intelligenz ist also definiert als

„Fähigkeit (…), Aufgaben mit Hilfe des Denkens zu lösen“ (Dorsch, 311).

Oder als

„(…) die Fähigkeit zu lernen“ (Arnold Bd. 2, 210).

„Intelligenz ist die Fähigkeit der Einsicht“ (Kleinert, 733).

Die Begabungstautologie erscheint hier in neuer Fassung: Jeder wie immer gearteten Leistung soll eine Potenz zugrunde liegen, die alles möglich macht, indem sie nichts Bestimmtes enthält; ein Vermögen also, das, einem inneren „Stein des Weisen“ gleich, jedes Vermögen erwerblich macht. Und das ist absurd. Denn einerseits wird ja gar nicht behauptet, diese Potenz erspare einem die Aneignung irgendeiner Kenntnis. Dass man sich jedes Stück Wissen immer neu erarbeiten muss, soll ja gar nicht bestritten werden. Aber kaum ist es erarbeitet, soll die neue Kenntnis nicht auf diese Tätigkeit des Geistes zurückgehen.

Unterschiede im Wissen und Können sollen nämlich nicht darauf hinweisen, dass die Individuen offenbar recht unterschiedlichen Gebrauch von der Tatsache machen, dass sie allesamt über einen Geist verfügen. Diese rationelle Feststellung würde die ganze Absicht konterkarieren, den Individuen mit dem Verweis auf die Intelligenz eine ihren Verstandesgebrauch beschränkende Kraft anzudichten. Also muss für jedes angeeignete Wissen ein anderer Grund her: Man weiß, was man weiß, weil dem Geist die Erarbeitung dieser Einsichten durch eine Kraft namens Intelligenz ermöglicht wurde.

Intelligenz = Erfolgsfähigkeit

Wenn sich in jeder bestimmten Leistung des Individuums die Güte seiner Intelligenz zeigen soll, dann sind konsequenterweise all diese Leistungen nicht mehr, was sie dem Inhalte nach sind, sondern Äußerungsweisen dieser abstrakten Potenz. Und als solche sind alle dasselbe, nämlich Unterfälle. Betätigungsweisen von mehr oder weniger erfolgreicher „Problemlösung“. Intelligenz ist demnach das, was sich in der Lösung wie auch immer gearteter Aufgaben bewährt:

„Die Intelligenz ist ein Instrument der Selbstbehauptung und Selbstbewältigung, und zwar, da sie sich den verschiedenen Aufgaben gegenüber in den unterschiedlichsten Lebenslagen bewährt, ohne besondere Ausrichtung“ (Mühle, 72).

„So definiert z.B. Stern die Intelligenz als die Fähigkeit, das Denken auf neue Forderungen einzustellen, bzw. als die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Lebensbedingungen“(Clauß, 233).

Diese Betrachtungsweise will keine Unterscheidung kennen zwischen der richtigen Lösung einer theoretischen Aufgabe und einer von befugten Instanzen als gültig beurteilten Lösung. Denn dass eine Anforderung, egal welchen Inhalts, existiert, weist sie für die pädagogische Psychologie als treffende Bewährungsprobe der Intelligenz aus. Lernfähigkeit hat sich erwiesen, wenn gelernt wurde, was vor gestellten Anforderungen als Lernerfolg gilt. Intelligenz erweist sich also im Konkurrenzerfolg der Individuen.

Lerngeschwindigkeit als Maß der Intelligenz

Wenn intelligent ist, was vor den herrschenden Maßstäben Bestand hat, dann ist die Geschwindigkeit eines Lernvorgangs passender Gradmesser für die Intelligenz eines Individuums. Denn gehört sie nicht zu den Bewährungsmaßstäben, die in der Schule gelten? Also gilt:

„Ein intellektuell besonders begabter Mensch ist z.B. in der Lage, schnell (!) und sicher das wesentliche einer bestimmten Problemsituation zu erkennen, denkökonomisch die relevanten Informationen aus den Informationen in ihrer Gesamtheit auszusondern und angemessene Lösungsansätze und -methoden von weniger adäquaten zu differenzieren“ (Cropley, 69).

Hier wird die Qualität einer geistigen Leistung u.a. in die Dauer der Gedankenproduktion gelegt. Pädagogen wissen, dass es einen Gedanken adelt, wenn er wenig Zeit in Anspruch genommen hat; Pädagogen wissen gleichfalls, dass die Güte einer Überlegung sich an dem ganz äußerlichen Verhältnis zur Zeit entscheidet. Diese Gewissheit entnehmen sie nicht den Bestimmungen von Intelligenz, sondern der schulischen Praxis: Weil dort Lernen unter das Muss der Zeit gesetzt wird und sich die Kinder dann auch tatsächlich an dieser Messlatte sortieren, nehmen Pädagogen dieses Kriterium als angemessenes Messinstrument zur Ermittlung von Intelligenzunterschieden:

„Wenn sich jede Entwicklung in Lernprozessen realisiert, so wird man dort auf unterschiedliche Anlagen schließen, wo Lernprozesse bei sonst gleichen Bedingungen verschieden verlaufen. Bei der Grobheit der heute zur Verfügung stehenden Methoden werden die manifesten Unterschiede meistens die Raschheit des Verlaufs von Lernprozessen betreffen. Aus ihr wird man auf die Güte der entsprechenden Anlage schließen. Das entspricht auch der Erfahrung des Pädagogen“ (Aebli, 169).

Aebli gibt offen zu, dass er sich schlicht dem schulischen Beurteilungsgesichtspunkt Lerngeschwindigkeit anschließt, wenn er „die Erfahrungen des Pädagogen“ als Kronzeugen für die unterschiedliche Intelligenz des Nachwuchses zitiert: Auch die praktizierenden Pädagogen hätten festgestellt, dass die Kinder, konfrontiert mit demselben Stoff, unterschiedlich schnell begreifen. Dabei plaudert er noch selber aus, dass er gar kein Maß anzugeben wüsste für das Lerntempo, das einem bestimmten Stück Stoff angemessen sein sollte. Dass manche Kinder zu langsam sind, um von ihm für begabt gehalten zu werden, begründet er nämlich ausschließlich mit dem Vergleich zu Schülern, die schneller sind. Eine Klasse von Lahmschnecken ergibt dieser Logik zufolge 100% Intelligenzbestien, wenn sich nur ein paar noch langsamere finden.

Man sieht, mit der Intelligenztheorie lassen sich bestechende Resultate erzielen: Wenn Intelligenz sich in der Bewährung vor obligatorischen Anforderungen zeigt, dann fallen schulische Bewährungsmaßstäbe unmittelbar mit Messlatten der Intelligenz zusammen. Und die Urteile, die die Schule über die Leistungen der Kinder fällt, sind dann identisch mit einer gelungenen Beurteilung der Kapazität ihres Geistes. Die Resultate des schulischen Leistungsvergleichs gelten ja als ein Auskunftsmittel über die geistige Qualität des Schülermaterials.

So fügt es sich ganz von selbst, dass die Schulhierarchie einer inneren Intelligenzhierarchie der Kinder gerecht wird. Diese Sichtweise bekräftigen Pädagogen gern durch gestrenge Anwendung der Logik des Zirkelschlusses: Erst nehmen sie die Schulleistungsdifferenzen als Ausweis einer entsprechenden inneren Sortierung der Menschheit. Und diese Begründung der Schulresultate mit einer geistigen Hierarchie beglaubigen sie wieder mit nichts anderem als den Resultaten der Schule. Da stellen sich schließlich Bildungsunterschiede heraus:

„Die pädagogische Praxis und (!) Befunde der Pädagogischen und Entwicklungs-Psychologe zeigen, dass sich häufig in Lerngruppen auf allen Stufen des Bildungssystems intellektuelle Unterschiede zwischen Individuen erkennen lassen. Diese Unterschiede beziehen sich auf Eigenschaften und Merkmale wie Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit, Effektivität der Informationsverarbeitung… Aus den individuellen Differenzen in der Ausprägung dieser auf Fähigkeiten basierenden Merkmale — die sowohl bei Prüfungen oder anderen schulischen Leistungen als auch in Testergebnissen zum Ausdruck kommen — lässt sich generell auf eine Dimension des intellektuellen Potentials schließen, das hier als ‚intellektuelle Begabung‘ bezeichnet werden soll“ (Cropley, 1).

Wenn man „intellektuelle Unterschiede“ von Schülern betrachtet als Ergebnis „auf Fähigkeiten basierender Merkmale“, dann lässt sich aus Schulunterschieden auf Unterschiede im Potenzial „schließen“. Wenn man also unterstellt, dass die Schulhierarchie auf einer Begabungshierarchie gründet, dann beweist die Schulhierarchie das Vorhandensein dieser geistigen Rangordnung.

Die Pädagogik hat sich mit der Intelligenztheorie also zu einer sehr demokratischen Sortierung der Menschheit vorgearbeitet. Nicht dass sie jemandem die Intelligenz vollständig absprechen möchte!

Nein, da sind Pädagogen strenge Vertreter der Gleichheit der Menschen. Allen attestieren sie gleichermaßen Intelligenz. Aber der Grad der intellektuellen Beschränktheit fällt natürlich sehr verschieden aus. Auf diese Weise haben sie die Menschheit auf einer einheitlichen Skala untergebracht und kennen nur noch bessere und schlechtere Ausprägungen derselben Sache „Intelligenz“.

Der schulischen Gleichbehandlung aller Schüler steht so eine Gleichheit der Individuen gegenüber, die alle gleichermaßen über Intelligenz verfügen. Und den Resultaten der Schule — Hierarchie von Schulkarrieren — ist eine entsprechende Intelligenzhierarchie zur Seite gestellt. Und dass beide zusammenpassen, ist ausgemacht. Denn die Intelligenzhierarchie ist bewiesen durch nichts als durch – die Schulhierarchie!

Konstruktive Zweifel

Dieselben Pädagogen, die die Schulhierarchie als Beweis für eine Intelligenzhierarchie zitieren, melden immer auch Bedenken an, ob die Schule die Intelligenzunterschiede überhaupt richtig zum Vorschein bringe. Schließlich prüfe die Schule immer nur bestimmte Lernergebnisse, nie aber die menschliche Fähigkeit „Intelligenz“ als solche.

Sie berufen sich hier neu auf ihre eigene Dialektik von Intelligenz und Lernen: Jede bestimmte Leistung sollte einerseits Äußerung der Intelligenz sein, andererseits Produkt von Lernen. Also lässt sich an jeder Leistung die Frage aufwerfen, ob im Gelernten wirklich die (ganze) Potenz zum Ausdruck kommt. Zeigt Schulversagen ein Intelligenzdefizit an, oder zeigt sich hier das Gegenteil, nämlich dass durchaus vorhandene Intelligenzpotenziale mangels geeigneter Lernbedingungen ungenutzt schlummern? Gerade die Vertreter der Logik, dass die geäußerten Leistungen eines Individuums zeigen, was in ihm steckt, beherrschen also auch immer die Umkehrung: Sie behaupten die Differenz von Äußerung und Potenz.

Und weil man als Pädagoge diesen Zweifel in die Übereinstimmung von Schul- und Intelligenzhierarchie je nach politischem Geschmack zur Anwendung bringen kann, lässt sich hier ein ebenso endloser wie unentscheidbarer Streit führen:

Die einen deuten auf die großen Differenzen der Kinder im Schulerfolg und bezweifeln, dass das dem „Begabungsprofil“ der Bevölkerung entspricht. Sie fragen: Schlummern hier nicht „Begabungsreserven“? Muss nicht insbesondere bei den unteren Schichten davon ausgegangen werden, dass es diesen Kindern vor allem an den Gelegenheiten fehlt, ihre Befähigung zu entfalten? Also verlangen sie kompensatorische Fördermaßnahmen, damit auch die „Schulversager“ zeigen können, was wirklich in ihnen steckt.

Die anderen sehen in der Schule eine begabungswidrige Nivellierung am Werk. Denn würde die Schule wirklich die Intelligenz zutage fördern, dann, so meinen sie, müssten viel größere Leistungsdifferenzen zustande kommen. Also deuten sie auf die erfolgreichen Schüler und entdecken, dass die Schule diese Hochbegabten daran hindert, den ganzen Umfang ihrer herausragenden Begabung zu entfalten. Diese Kinder versinken ihres Erachtens im allgemeinen Mittelmaß, obwohl sie zu Spitzenleistungen prädestiniert wären:

„Im schulischen Bereich ist (jedoch) die grundsätzliche Verknüpfung von Begabungspotential und manifester Leistung wenig sinnvoll, weil meist die Gelegenheit zur Aktualisierung der potentiell vorhandenen Begabungen bei Kindern, in Form von besonderen (Spitzen-)Leistungen, fehlt“ (Cropley, 30).

Beide Parteien werfen sich dann wechselseitig vor, der kindlichen Natur Gewalt anzutun: Die einen wittern politisch motivierte Elitebildung, die anderen sehen die Begabungsunterschiede der Gleichmacherei zum Opfer fallen. Dabei denken beide genau gleich: Sie halten der Schulhierarchie einen Dienst an einer entsprechend sortierten Menschennatur zugute und wollen die Entsprechung perfektionieren. Die einen wollen bei aller Gleichheit der Menschen die natürlichen Unterschiede nicht eingeebnet sehen. Die anderen betonen, dass die Schule aber auch nur natürliche, nicht etwa herkunftsbedingte Unterschiede zutage fördern darf.

Der Intelligenz auf der Spur

Die Skepsis der Pädagogischen Psychologie bezüglich der Aussagekraft von Schulnoten kennt eine Unzahl von Indizien. Da wird moniert, dieselbe Lernleistung werde je nach Lehrer und Schulklasse ganz unterschiedlich bewertet. Außerdem liege bei Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft gar nicht dieselbe Möglichkeit vor, ihre Begabung zu entfalten. Überhaupt verabreiche die Schule jeweils einen ganz bestimmten Lernstoff, teste also nie das ganze Spektrum menschlicher Fähigkeiten. Kurz, die Pädagogische Psychologie zieht die Noten als objektiven Ausdruck der Intelligenz in Zweifel.

Und dafür meint sie einen ganz besonders schlagenden Beweis zu kennen: Die Prüfungsergebnisse ergeben keinen widerspruchsfreien Aufschluss über die Karriere eines Kindes. Denn manch einer, der z.B. wegen seiner Noten den Weg zur höheren Schule fand, hat dann im Gymnasium so schlechte Zensuren, dass er scheitert.

„Da Schulnoten zur Auslese benutzt werden, sollten die Noten auch von prognostischer Gültigkeit sein. Man erwartet z.B. von der Übergangsauslese am Ende der Grundschulzeit für das Gymnasium, daß sie gültige Vorhersagen darüber ermöglicht, ob der betreffende Schüler das Abitur bestehen wird oder nicht. Man weiß heute, daß die Grundschulgutachten und -zensuren für den Oberschulerfolg so gut wie keinen prognostischen Wert haben. … Die traditionellen Methoden der Schüler- und Studentenbeurteilungen können somit die prognostischen Aufgaben, die ihnen im Rahmen der dem Bildungswesen gestellten Aufgaben der Begabtenförderung und -auslese übertragen werden, nicht erfüllen“ (Rosemann 2, 202).

Darin kommt zwar gar kein Mangel der Noten zum Ausdruck. Denn (Übergangs-)Noten wollen gar nicht die künftigen Konkurrenzresultate vorwegnehmen. Sie sind also kein Instrument der Intelligenz-Diagnostik, mit dem eine Prognose über den künftigen Schulerfolg bezweckt würde. Sie entscheiden vielmehr anhand der Bewährung im gelaufenen Leistungsvergleich, wer künftig in welchem Feld der Bildungskonkurrenz zugelassen ist; wer also in die Konkurrenz im Gymnasium oder an der Universität einsteigen darf, und wer das Recht auf dieses Feld der Konkurrenz verwirkt hat. Aber Pädagogen wollen eben die Notenkonkurrenz und ihre Ergebnisse unbedingt für ein Instrument der „Begabungsdiagnostik“ halten — und gemessen daran kommen sie ihnen mangelhaft vor.

Diese pädagogische Kritik ist praktisch geworden: Man hat sich alternative Test-Methoden ausgedacht, von denen man sich die Behebung des vermeintlichen Mangels der Noten versprach. Man hat also Tests ersonnen, die die Intelligenz so objektiv zu messen imstande sein sollen, dass sie wirklich eine begabungsgerechte Zuordnung der Kinder zu den Schulstufen ermöglichen:

„Der Intelligenztest soll Leistungsstärken zeigen, die in den Schulleistungen nicht oder nicht unbedingt zum Ausdruck kommen“(Wendeler, 70).

Die Wissenschaft hat sich deshalb daran gemacht, nach Geistesleistungen zu suchen, die wirklich die Intelligenz als solche zum Vorschein bringen. Dieses Unterfangen durchzieht allerdings in allen Varianten ein Widerspruch: Zum einen soll sich die Intelligenz ja in den bestimmten Lernleistungen zeigen. Also prüft man Lernerfolge. Andererseits kann man bei jeder solchen Leistung anmelden, hier habe sich ja nur eine bestimmte erlernte Fähigkeit gezeigt. Wie die Intelligenz in Reinform und als Ganze beschaffen sei, lasse sich so gar nicht feststellen. Darauf wieder lässt sich einwenden, dass man die Intelligenz als solche doch wegen ihrer Funktion für ganz bestimmte, schulische Leistungen kennenlernen wolle, dass sie also auch an bestimmten schulrelevanten Leistungen ermittelt werden müsse. Und so weiter.

Diesem Widerspruch verdanken sich die Varianten von Testverfahren.

Die einen propagieren die „lern-und kulturunabhängigen“ Tests. Diese folgen dem Ideal, möglichst kein gelerntes Wissen abzufragen, ja am besten gar keinen bestimmten Gedanken zu prüfen, denn den könnte das Kind aufgrund seines speziellen „Erfahrungshorizonts“ schon einmal gedacht haben. Und wieder hätte man nur Gelerntes, nicht aber die Lernpotenz als solche festgehalten. Also:

„unternahmen zahlreiche Testkonstrukteure den bemerkenswerten Versuch, sogenannte ‚kulturfaire‘ Tests zu entwickeln, d.h. Tests, die Anforderungen stellen, mit denen Kinder aller sozialen Klassen gleichermaßen vertraut sind. Derartige nicht-verbale Tests bestehen aus Formen und Figuren und möglicherweise auch aus Bildern“(Rosemann 1, 36).

Und kaum hat man so einen Test, kann man auch an ihm bezweifeln, ob er die Intelligenz wirklich unbeeinflusst durch Lernergebnisse misst. Denn ganz ohne Gedanken kommt eben kein Test aus – und wer verbürgt bei einem Gedanken schon, dass er rein und nackt das Potenzial widerspiegelt und nicht am Ende doch erlernt wurde?

„Aber auch gegenüber diesen Tests müssen Einwände ausgesprochen werden, denn die Geschicklichkeit im Umgang mit Formen und Figuren variiert mit der Art der Erziehung und der häuslichen familiären Umwelt“ (Simon, nach: Rosemann 1, 36).

Nun hat diese Übung etwas Peinliches: Um einer Potenz auf die Schliche zu kommen, die über alle Lernmöglichkeiten des Menschen entscheiden soll, muss sich die Wissenschaft Intelligenzleistungen erfinden, die möglichst jeden Wissensinhalt vermissen lassen. Ist damit nicht eigentlich der Beweis erbracht, dass die Intelligenz — gäbe es sie denn — eine Sache wäre, auf die man getrost pfeifen kann? In allen geistigen Leistungen, die Kenntnisse eines bestimmten Inhalts darstellen, soll sie ja schließlich nach psychologischer Auskunft gar nicht recht zum Ausdruck kommen. Da soll ja „nur“ Gelerntes, statt der Begabung „an sich“, vorliegen.

Dann lernen wir doch einfach „bloß“ etwas und lassen die Begabung Begabung sein?! Aber das wäre ein pädagogisch unerlaubter Schluss. Die Pädagogische Psychologie bezweifelt lieber, ob solche Tests für die Absicht, Schulerfolg zuverlässig zu prognostizieren, brauchbar sind. Denn sie will der Intelligenz schließlich nur deshalb getrennt von der aktuellen schulischen Äußerung habhaft werden, weil sie diese Fähigkeit für (schul-)erfolgsentscheidend hält. Also gibt es neben dem Ideal des lernunabhängigen Tests immer auch den Vorwurf, hier würden irrelevante Abseitigkeiten abgefragt. Intelligenztests müssten schließlich schulrelevante Fähigkeiten prüfen. Denn:

„Man möchte wissen, ob ein Schüler in einer bestimmten Schulart (…) zum Erfolg kommen wird oder nicht“ (Wendeler, 71).

Und wie stellt man fest, ob ein Test schulerfolgsrelevante Fähigkeiten misst? Der Klassiker Binet gibt die ebenso tautologische wie einfache Antwort, dass ein Test dann schulrelevant ist, wenn er zu derselben Sortierung wie die Schule kommt:

„Die Diagnostik der Intelligenz gründet in der Annahme, dass ein bestimmtes Ensemble von Fähigkeiten, über das ein Individuum verfügt, beim Lösen von Testaufgaben wirksam wird. Auf die zu behandelnde Thematik hin konkretisiert, bedeutet also ›Intelligenz‹ das Vorliegen von Fähigkeiten, die zu guten Schulleistungen führen. Binet, der die modernen, testbezogenen Modelle der Intelligenz in die Psychologie einführte, war in seinem Vorgehen stark empirisch orientiert, mentale Aktivitäten, die offensichtlich eine positive Wirkung auf den Schulerfolg ausübten, wurden über ein empirisches Relativ geprüft, und diejenigen, die tatsächlich zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Schülern zu unterscheiden erlaubten, in die Binetsche Testbatterie integriert“ (Cropley, 66f.).

Wenn Intelligenz ist, was zu Schulleistungserfolg führt, so trifft ein Test mit seinen Aufgaben dann die Intelligenz der Probanden, wenn er dieselben Unterschiede wie die Schule ergibt. Jetzt werden die Intelligenztests also durch ihre Übereinstimmung mit den Resultaten der Schulselektion „validiert“.

Ein interessantes Ergebnis:

Angetreten, um die „Intelligenzmessung“ durch die Schule zu kontrollieren und zu korrigieren, erhebt hier die Intelligenztheorie umgekehrt die Ergebnisse schulischer „Intelligenzmessung“ zu ihrem Kontrollmaßstab. Die Schule wird korrigiert durch einen Kontrolletti, der sich von der Schule kontrollieren lässt.

Das kann man natürlich als Psychologe wieder problematisieren: Wie soll man denn mit einem Test den künftigen Schulerfolg zuverlässig prognostizieren, wenn man sich rein an den aktuellen Erfolg hält? Sind also nicht doch schulunabhängigere Tests nötig, gerade damit die Testergebnisse dauerhaft mit den Schulergebnissen korrelieren?

„Tests, die in einem relativ geringen Ausmaß schulisches Wissen voraussetzen, sind (…) zur Entdeckung von angelegten, aber noch nicht ausgebildeten Fähigkeiten und Talenten geeignet“ (Gage, 229).

Die laufen dann natürlich wieder Gefahr, gar keine schulrelevanten Fähigkeiten zu testen usf. So hat alles seine Vor- und Nachteile.

Erledigen lässt sich diese süße Drangsal auch noch: Wenn man als Psychologe mit seinem Intelligenzrest ganz praktisch für die Sortierung in Schule (und Beruf) zum Einsatz kommt; wenn man also nicht neben der Schule, sondern in ihr als Instrument der Sortierung wirksam werden darf, dann ist der gordische Knoten durchschlagen. Denn in dem Maße, wie der Intelligenztest selbst das Sortierungsmittel ist, wird seine „empirische Verifikation“ durch den realen Verlauf von Schulkarrieren geradezu unausweichlich.

Wenn ein Kind mittels der Erfolgsprognose eines Intelligenztests vom Gymnasium ferngehalten wird, dann sorgt der Test ja selbst dafür, dass er recht behält: Dass das Kind nicht geeignet ist, stellt er her, indem er die Zulassung verhindert. Und optimal „validieren“ ließen sich die Tests, wenn sie die Noten ersetzen dürften. Wenn die Schulerfolgsprognose eines Tests nämlich die Festlegung des Konkurrenzstandes ist, dann müssen die beiden einfach 1:1 korrelieren. Daher halten es Testtheoretiker nicht zu Unrecht für einen Gütebeweis ihrer Tests, wenn diese irgendwo in der realen Welt der Konkurrenz Schicksal spielen dürfen:

„Ein wichtiges Aufgabengebiet der Pädagogischen Psychologie ist die pädagogische Verwendung von Tests (…) Die häufige und zahlreiche Benutzung der für den Pädagogen bearbeiteten Tests von den Lehrern zeugt für die Hilfe, die sich die Lehrer von den Tests versprechen und die sie tatsächlich haben. Ich erinnere nur an die hohen und immer höher werdenden Auflagen der Schulreifetests. Das spricht für sich selbst“ (Roth 2, 62).

Die Ideologie, Intelligenz zeichne für die Scheidung der Menschheit in Oben und Unten verantwortlich, lässt sich eben am schönsten bewahrheiten, wenn Wissenschaftler die Erlaubnis erhalten, den eigenen Rassismus auch noch praktisch wahr zu machen.


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Quellen & Anmerkungen:

  • Aebli, Hans, Die geistige Entwicklung als Funktion von Anlage, Reifung, Umwelt und Erziehungsbedingungen, in: Roth, Heinrich (Hrsg.), Begabung und Lernen, Stuttgart 1971
  • Arnold, Wilhelm u.a. (Hrsg.), Lexikon der Psychologie Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 1971 Brezinka, Wolfgang , Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft, München 1974
  • Cropley, Arthur; McLeod, John; Dehn, Detlev, Begabung und Begabungsförderung, Heidelberg 1988
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Dieser Artikel erschien zuerst im Rubikon-Magazin.
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Ein Kommentar

  1. Begabung für eine Sache zeigt sich in der Geschwindigkeit, mit der eine Person, die sich bemüht, beim Erlernen einer Sache Fortschritte macht. Je schneller die Fortschritte, desto begabter die Person.

    Evidenz dafür lässt sich allenthalben finden. Ich finde diese Diskussion entsprechend verfehlt.

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